Essgestört? Fünf Fakten,
die dir vielleicht nicht schmecken.

Ungefähr zehn Jahre lang war ich essgestört. Und durch meine Internetpräsenzen habe ich im Laufe der vergangenen 18 Jahre viele andere Frauen kennengelernt, die ebenfalls essgestört sind oder waren. Das ist eine ganze Menge Erfahrung.

Deshalb nehme ich es mir heute hier raus, über fünf “Fakten” zu schreiben, die vielen Essgestörten nicht schmecken. Denn ich kenne keine Essgestörte, die nicht an diesen Wahrheiten zu knabbern gehabt hätte. Mich selbst eingeschlossen.

Doch es ist wichtig, den Finger in die Wunde zu legen und diese Wahrheiten hier zu servieren. Denn alle MindMates, die nicht mehr essgestört sind, können sie bestätigen.

Falls du also selbst essgestört bist, gib dir die Chance, dich mit diesen Fakten auseinanderzusetzen. Auch dann, wenn sie weh tun oder Widerstand in dir erzeugen. Das ist völlig normal und in Ordnung.

Als ich noch essgestört war, habe ich mich immer wieder mit diesen Tatsachen angelegt. Und genau so oft habe ich den Kampf verloren und früher oder später mit einem Rückfall in essgestörtes Verhalten bezahlt.

essgestört

Essgestört?

Fakt 1:

Deine Kontrollversuche nähren die (Ess)Probleme.

Wenn du essgestört bist, dann ist es wahrscheinlich eine deiner größten Ängste, die Kontrolle über dein Essverhalten aufzugeben. Denn du fürchtest, dass du dann zu viel “Ungesundes” isst und an Gewicht zulegst. Doch die Wahrheit ist, dass du die Kontrolle längst verloren hast.

Entweder versuchst du immer wieder, dein Essverhalten durch neue Diät- oder Ernährungspläne zu steuern, um immer wieder zu scheitern. Dieses Scheitern zeigt sich durch den gefürchteten Jo-Jo-Effekt und/oder durch Fress- und/oder Kotzanfälle. Oder du isst seit Jahren tagtäglich dasselbe und davon möglicherweise zu wenig. Die Waage ist dein Stimmungsbarometer und der Spiegel dein Richter.

Eine Essgestörte erkennst du nicht unbedingt an ihrem Körper. Doch du erkennst sie an ihrem Denken (über ihren Körper und über Nahrungsmittel). Bist du essgestört, bist du besessen vom Essen und von deinem Gewicht und Aussehen.

Ständig denkst du darüber nach, was du wann, wovon und in welcher Menge (nicht) essen solltest. Dabei gibt es Lebensmittel, die deiner Definition von ungesund, kalorienreich oder schlecht entsprechen. Diese Lebensmittel fürchtest du geradezu, während du sie gleichzeitig begehrst, weil du sie nicht haben darfst. Und deshalb sind genau sie es, die du bei Rückfällen unkontrolliert in dich reinstopfst.

Danach verurteilst du dich für deinen Mangel an Disziplin und Willenskraft und beschließt, dass ab morgen alles anders wird. Doch dieses “andere Morgen” kommt nicht, solange dein Fokus auf deinem Essverhalten und deinem Gewicht und nicht auf den eigentlichen Ursachen deines ungesunden (Ess)Verhaltens liegt.

Hierbei geht es um dein negatives Selbstbild. Es zeigt sich durch einen Mangel an Selbstwertgefühl, Selbstachtung und Selbstsicherheit, durch den Ur-Glaubenssatz “Ich bin nicht gut genug.”

Fakt 2:

Keiner kann deinen Hunger nach Anerkennung stillen.

Bist du essgestört, bist du mit deiner Aufmerksamkeit wahrscheinlich sehr häufig bei anderen und sehr selten bei dir. Oder anders gesagt: Du blickst permanent durch die Augen anderer auf dich selbst. Denn du hungerst sehr nach Aufmerksamkeit und Anerkennung von Außen.

Du willst gesehen und gehört werden. Weil du hoffst, dass die Aufmerksamkeit anderer Menschen dieses innere Loch in dir stopfen kann und du dich dadurch endlich gut genug fühlst. Doch die Wahrheit ist, dass niemand außer dir selbst dieses Loch stopfen kann.

Hast du (Ess)Probleme, hast du auch Beziehungsprobleme. Denn einerseits tust du zu viel von dem, was andere wollen, während du andererseits zu viel von den anderen erwartest. In deinen Beziehungen gibt es diesen unausgesprochenen Deal. Und vielleicht bist du dir dieses Schein-Vertrags nicht bewusst. Dein Gegenüber ist es aber garantiert nicht.

Dieser Deal lautet: “Ich verhalte mich so, wie ich glaube, dass du mich haben willst. Dafür gibst du mir all die Anerkennung, die ich brauche.” Das ist die Definition von Abhängigkeit: “Ich brauche es, dass du mich gut findest.”

Doch was du wirklich brauchst ist, dass du selbst dich gut (genug) findest.

Fakt 3:

Dein Körper ist nicht dein Feind. 

Wenn du essgestört bist, empfindest du deinen Körper häufig als eine einzige Problemzone. Und du glaubst, dass mit einem perfekteren Körper ein perfekteres Leben möglich wäre. Also versuchst du, deinen Körper zu unterwerfen und ihn zu kontrollieren. Dein Kopf entscheidet, wie dein Körper auszusehen hat und welche Nahrungsmittel er wann bekommt.

Dadurch beginnt er, der ewige Kampf Kopf gegen Körper, bei dem es keine Gewinner gibt. Doch die Wahrheit ist, dass dein Körper dein wichtigster Verbündeter ist, den dein Kopf zu deinem schlimmsten Feind gemacht hat.

Dein Körper lässt dich wissen, wann du Erholung oder Bewegung brauchst. Und genauso informiert er dich durch sein natürliches Hunger- und Sättigungsgefühl darüber, wann und wie viel Nahrung er braucht. Du hast lediglich verlernt, ihm zuzuhören und zu vertrauen.

Eine Aufgabe deines Körpers ist es, dein Überleben zu sichern. Und wenn er nicht einigermaßen regelmäßig und ausreichend mit Nahrung versorgt wird, verwertet er das, was er bekommt immer effizienter.

Erst, wenn du deinem Körper vertraust, kann dein Körper dir wieder vertrauen.

Fakt 4:

Deine (Ess)Probleme verschwinden nicht von alleine.  

Bist du essgestört, hoffst du immer wieder darauf, dass es dieses eine Ereignis gibt, das alles für dich ändern wird. Oder du suchst nach dieser einen “magischen Formel”, die – einmalig angewandt – sämtliche (Ess)Probleme bis in alle Ewigkeit verschwinden lässt. Doch die Wahrheit ist, dass der Genesungsweg ein Weg der vielen kleinen Schritte ist, die von dir gegangen werden müssen.

Du kannst dir deine Essstörung schönreden, du kannst sie dir kleinreden, du kannst vor ihr davon laufen. Doch sie wird immer schneller sein. Warum? Weil – egal wohin du fliehst – du dich selbst mitnimmst. Und da essgestört sein viel mehr mit deinem Selbstbild als mit dem Essen zu tun hat, nimmst du auch deine (Ess)Probleme mit.

Du kannst den Job wechseln, deinen Beziehungsstatus ändern, schwanger werden oder nach Südamerika auswandern. Möglicherweise wird es einige Wochen oder Monate besser laufen. Doch spätestens dann, wenn das Neue normal geworden ist, wirst du dich wieder als essgestört erleben. Weil du dich in alltbekannten Situationen wiederfinden wirst.

Die (Ess)Störung kann erst dann verschwinden, wenn du sie verstanden hast und dementsprechend anders handeln kannst.

Fakt 5:

Dein Genesungsweg muss oberste Priorität haben. 

Wenn du essgestört bist, dann gehört “dafür habe ich jetzt keine Zeit, weil … ” zu deinen Lieblingsausreden. Doch die Wahrheit ist, dass du es dir nicht leisten kannst, keine Zeit für den wichtigsten Menschen in deinem Leben zu haben. Und dieser Mensch bist du selbst. “Oh Gott, wie egoistisch!”, höre ich es in dir kreischen. “Halleluja, wie wahr”, antworte ich dir gelassen.

Ja ich weiß, du hast Verpflichtungen, Termine, Aufgaben und überhaupt. Doch warum tust du, was du tust? Wie oft machst du es nur, weil du dir Lob und Liebe dafür erhoffst? Also machst du es für dich. Ist das nicht egoistisch?

Doch wirklich tragisch ist, dass du – selbst wenn du Anerkennung für deine Leistungen oder Komplimente für dein Aussehen bekommst – nicht lange davon zehren kannst. Du brauchst immer mehr davon. Es ist nie genug. Weil du selbst glaubst, nie (gut) genug zu sein.

Den Genesungsweg gehen bedeutet nicht, dass du immer besser wirst. Sondern es bedeutet zu erkennen, dass du immer gut genug (gewesen) bist.

Essgestört? Was du machen kannst:

Abschließend fasse ich noch mal kurz zusammen, was du meiner Meinung nach tun solltest, wenn du essgestört bist:

  • Lerne von der Essstörung, anstatt sie zu fürchten. Rückfälle ergeben sich meist aus einer Summe von Ereignissen. Dabei geht es um unterdrückte Bedürfnisse und ignorierte Grenzen.
  • Lass dich, zumindest eine Zeit lang, regelmäßig professionell begleiten. Und zwar von jemandem, bei dem du dich wohlfühlst und mit dessen Hilfe du Fortschritte machst.
  • Verbringe mehr Zeit mit dir selbst und lerne dich besser kennen, verstehen und mögen. Gehe so mit dir selbst um, wie du mit einer sehr guten Freundin umgehen würdest.
  • Finde deine Möglichkeiten des kreativen und körperlichen Ausdrucks. Probiere aus, was dir Spaß macht, was dich entspannt, was dir guttut und deine Seele nährt.
  • Stell dich darauf ein, dass gestörtes Essverhalten erst gegen Ende deines Genesungsweges endgültig verschwindet. Doch der Weg ist das Ziel. Je mehr du ihn – und damit dich selbst – würdigst, desto leichter und schneller kannst du ankommen.

Mind the facts.

MindMuse Simone