Über’s Leben und Überleben –
25 Jahre ohne Bulimie

Liebe MindMate, heute ist ein besonderer Tag für mich. Denn vor genau 25 Jahren hatte ich meinen letzten Rückfall in die Bulimie. Vor einiger Zeit habe ich einen Text über diesen Tag geschrieben, den ich heute mit dir teile:

Der 05.06.1998 ist so etwas wie ein zweiter Geburtstag für mich. Und nein, ich habe nicht auf wundersame Weise einen schweren Unfall überlebt. Mein Wunder war anders. Und Unfälle gab es in meinem Leben so einige…

Der 05.06.98 war der Tag, an dem ich endgültig kapitulierte.

Ich gab auf und dadurch gewann ich einen brutalen Krieg, den ich jahrelang geführte hatte. 

Am 05.06.98 saß ich völlig erschöpft auf dem Boden des winzigen Bades meiner Studentenbude. Und es war schon wieder passiert. Ich hatte es tun müssen, obwohl ich gerade erst das Krankenhaus verlassen hatte, in das ich wegen einer komplizierten Halsentzündung eingeliefert worden war. Einer Entzündung, die mit hohem Fieber einherging und die so schmerzhaft war, dass ich meine Spucke nicht mehr schlucken konnte. Mein Hals war innerlich so angeschwollen, dass ich zu ersticken drohte.

Und trotzdem war ich wie ferngesteuert in den Supermarkt gelaufen, hatte mir all das verbotene Essen gekauft und es innerhalb kürzester Zeit in mich hineingestopft. Und zwar so viel und so schnell, dass mein Magen nach Erleichterung schrie. Den Finger brauchte ich mir schon lange nicht mehr in den Hals stecken. Ich kotzte das ganze Essen wieder aus und verspürte für den Bruchteil einer Sekunde Erleichterung. Direkt danach servierte mir mein Kopf die vertrauten Schuld- und Schamgefühle, die Verzweiflung und die Verurteilung, die Angst um Körper und Leben.

So oft hatte ich das während der letzten Jahre durchlebt.

Und schon seit geraumer Zeit war mir bewusst, dass dieser Teufelskreis nur in einer Abwärtsspirale enden konnte. Schon lange hatte ich begriffen, dass es eigentlich meine Seele war, die nach Ausdruck schrie. 

Ich hatte verstanden, dass es Dinge in meinem Leben gab, die ich zum Kotzen fand, vor allem mich selbst. Und mir war klar, dass ich deshalb meine Meinung, meine Bedürfnisse und meine Emotionen all zu oft in mich hineinfraß, sie hinunterschluckte, anstatt sie verbal auszuspucken. 

Ich hatte bereits zigfach leidvoll erfahren, dass diese Unterdrückung Druck erzeugt. Druck, der sich immer wieder über der Toilettenschüssel entlud. Und dass ich meistens nicht anders damit umzugehen wusste, erzeugte nur noch mehr Druck in mir. 

Und mir war auch klar, dass ich im Grunde nach einer satten Seele und nicht nach einem perfekten Körper hungerte. Trotzdem schnürte mir die Angst vor dem Zunehmen noch häufig die Kehle zu.

Ich hatte bereits erkannt, dass mein gestörtes Essverhalten eine Kompensationsmethode war. Es war ein Überlebensmechanismus der mir half, nach Außen ein Bild aufrecht zu erhalten, dem ich im Inneren gar nicht entsprach. 

Das Fressen und Kotzen stand symbolisch für meine innere Zerrissenheit zwischen absolutem Gehorsam und hemmungsloser Rebellion, es stand für schwarz oder weiß, für ganz oder gar nicht, für sein oder nicht sein.

Es war ein Symptom, nicht die Ursache. 

Und alles begann mit dem Glauben, dass gutes Aussehen die Lösung aller Probleme sei. Es begann mit dem Glauben, dass mir ein perfekter Körper all die Anerkennung und Bestätigung verschaffen konnte, nach der ich so sehr hungerte. Eine Annahme, die in unserer Gesellschaft gesät und genährt wird.

Doch im Grunde begann es mit dem Glauben, nicht gut genug zu sein und deshalb eigentlich keine Existenzberechtigung zu haben.

Das, was ich glaubte und für die Wahrheit hielt – das Bild, das ich von mir selbst und vom Leben hatte – war die Ursache. Und diese ver-rückte Wahrnehmung war es, die letztlich alle weiteren Probleme anfütterte und größer werden ließ.

Schon seit geraumer Zeit befand ich mich in diesem unbefriedigenden Zustand, in einem Theoriestau. Ich hatte es begriffen. Doch konnte ich es zu schwach fühlen und dadurch auch nur selten anders handeln. Es schien in meinem Kopf festzuhängen und nicht in den Körper fließen zu können. 

Und deshalb erlebte ich zwar einige gute, leichte Phasen, doch die schlechten, schweren, kamen immer wieder. Und mit jedem Rückfall wurden die Zweifel größer, jemals ohne Kompensieren durch hungern, fressen und kotzen leben zu können. Nach jahrelanger, ehrlicher und beschwerlicher Auseinandersetzung mit mir selbst hatte ich es zwar begriffen, doch ich konnte es noch immer nicht greifen. 

Am 05.06.1998 war alles anders. 

Noch während ich erschöpft an der verhassten Toilettenschüssel lehnte und resigniert darauf wartete, dass die negativen Gedanken und Gefühle den nächsten Rückfall anfütterten, geschah es. 

Für mich war es so, als hätte ich die „Nicht-gut-genug-Brille“ durch die ich mich und das Leben sah, abgenommen. Und bis dahin war mir nicht bewusst, dass ich diese Brille noch immer trug und dass sie meine Wahrnehmung weiterhin verzerrte. Doch ohne diese Brille war nichts mehr ver-rückt. Sondern es wurde ins rechte Licht gerückt. Ich konnte sehen, dass ich immer noch in meinen alten Verstrickungen gefangen war.

Während ich früher Bestätigung wegen meines Aussehens von anderen wollte, wollte ich jetzt Verständnis für mein Handeln. Andere sollten mir erlauben, so zu sein, wie ich bin. Andere sollten die Dinge so sehen wie ich sie mittlerweile sah. Andere sollten mir das perfekte Umfeld bieten, in dem ich mir dann endlich erlauben würde, ich selbst zu sein.

Und während ich früher unbedingt dünn sein wollte, wollte ich jetzt zwar nicht mehr ganz so dünn – aber immer noch dünn – sein. Noch immer wollte ich meinen Körper kontrollieren. Denn ich glaubte immer noch, dass mein Körper dem Bild meines Kopfes zu entsprechen hatte.

Ich konnte sehen, mit welcher sklavischen Abhängigkeit ich mein Glück und meine Gesundheit in das Außen – in die Hände anderer Menschen und meines Körpers – legte. Und ich konnte sehen, wie unrealistisch und ungesund war, was ich tat. Ich konnte sehen, dass ich Verantwortung abgab und daher keine Antworten bekam. Und ich konnte sehen, dass ich weiterhin kontrollierte und manipulierte, weil die Angst mich noch immer regierte.

Ich konnte all das sehen und verstehen. 

Und diese Erkenntnis kam aus meinem Innersten heraus. Sie kam aus meinem Körper und schoss von dort ungehindert in meinen Kopf und löste den Theoriestau endlich auf. Ich hatte es begriffen und konnte es endlich auch greifen.

Am 05.06.1998 begann ich zu leben.

In den Jahren davor kämpfte ich meistens um mein Überleben. Es änderte sich wenig im Außen, doch vieles in meinem Inneren. Und diese inneren Veränderungen nährten die Veränderungen im Außen.

Am 05.06.1998 gab ich auch meinem Körper seinen Job zurück und entließ meinen Kopf fristlos.

Schwebe ich seit dem im siebten Himmel und lebe im Friede-Freude-Eierkuchen-Land? 

Nein. 

Aber ich sehe die Dinge anders, ich sehe sie viel häufiger so, wie sie wirklich sind.

Ich sehe sie mit einem gesunden Abstand und kann sie dadurch realistischer beurteilen.

Ich kann meine Rolle in dem Drama, dass sich jahrelang in meinem Kopf abspielte erkennen und bin nur noch selten Hauptdarstellerin, und immer häufiger Zuschauerin. Ich erkenne, was ich tatsächlich ändern kann und ich ändere es, wenn ich es ändern will. Kann ich etwas nicht ändern, ändere ich meine Einstellung dazu. Meistens jedenfalls…

Ich weiß, dass der Versuch, meinen Körper zu kontrollieren, im Grunde der verzweifelte Versuch war, das Leben zu kontrollieren.

Doch wer versucht, das Leben zu kontrollieren, der endet im Überlebensmodus.

Wer die scheinbare Kontrolle aufgibt, (er)lebt.

Mind the cause.

MindMuse Simone