Informations-Diät vs. Content-Hunger
und andere Dilemmas

“In diesem Jahr wirst du regelmäßig deinen Newsletter verschicken!” habe ich – die doch angeblich schon so lange keine Neujahresvorsätze mehr hat – zum Jahresbeginn gedacht. Mittlerweile liegt die erste Jahreshälfte hinter uns. Und ich sage es mal so: “Regelmäßig ist relativ …”

Während der letzten Wochen gab es dementsprechend etliche “interne Mahnschreiben” meines Minds in denen stand: “Demnächst solltest du aber wirklich mal wieder eine MindMail herausschicken, außerdem wolltest du das doch regelmäßiger machen!” Also habe ich begonnen darüber nachzudenken, wie – also mit welchen ausgeklügelten Methoden, die ich vielleicht noch gar nicht kenne – ich mich dazu bewegen kann, meinen Newsletter regelmäßiger zu verschicken.

Mit anderen Worten: Ich war auf der Suche nach einer geeigneten Methode der Selbst-Manipulation. Wieso Manipulation? Weil ich mich nicht erst mal gefragt habe, warum ich so lange keine MindMail verschickt habe. Stattdessen bin ich einfach unkritisch dem Wunschbild “Du solltest ab sofort immer regelmäßig liefern!” gefolgt.

Das entspricht vom Ansatz her ein wenig dem früheren Anspruch der Unmöglichen in mir, die permanent verlangte: “Von Morgen an musst du bis in alle Ewigkeit immer perfekt essen können.”

Vollgestopft mit Informationen?

Als mir das aufgefallen ist, habe ich mich also gefragt, warum das mit der erwarteten Regelmäßigkeit nicht so wirklich funktioniert hat. Und natürlich habe ich Antworten gefunden. Ein Grund, der mich (unbewusst) vom Schreiben und Versenden der MindMail abgehalten hat, ist, dass sich jedes Mal MindMates vom Newsletter abgemeldet haben.

Und obwohl ich weiß, dass das normal ist, und obwohl mir ebenfalls bewusst ist, dass es nichts mit mir persönlich zu tun hat, hat diese Tatsache einen Teil von mir verunsichert. “Die Unsichere” in mir hat durchaus logisch argumentiert: “Je seltener du Newsletter verschickst, desto weniger MindMates melden sich ab.”

Genauso logisch ist allerdings, dass ich – wenn ich keine MindMail verschicke – auch keine MindMate über Neuigkeiten auf MindMeals informieren kann. Da gibt es also durchaus ein Dilemma.

Das mentale Verdauungssystem

Also habe ich die Perspektive gewechselt und mir mein Verhalten als “Newsletter-Konsumentin” angeschaut. Auch ich habe mich in der letzten Zeit von vielen Newslettern abgemeldet. Einfach deshalb, weil es mir in der Summe zu viel geworden ist. Oder weil mich bestimmte Themen nicht mehr interessieren. Und weil ich aus einigen Newslettern herausgelesen habe, dass sich deren Verfasserinnen ebenfalls verpflichtet fühlen, regelmäßig zu liefern, obwohl sie nicht unbedingt jedes Mal etwas zu sagen haben.

Ich bin ziemlich gut darin, mein mentales Verdauungssystem nicht zu überlasten. So lasse ich beispielsweise mein Smartphone oft zu Hause und ich checke nie irgendeinen Status etc. Das fällt mir ehrlicherweise auch nicht schwer. Tatsächlich habe ich keinerlei FOMO (fear of missing out), sondern ich verspüre JOMO (joy of missing out).

Wer wie ich den Weg von der Abhängigkeit in die Unabhängigkeit gegangen ist und diesen Weg weiter verfolgt, dem geht die (innere) Freiheit über so ziemlich alles. Und aufgrund meiner Vergangenheit sind meine Sinne und Sensoren in Bezug auf mögliche Abhängigkeiten geschärft. Sobald ich da etwas wahrnehme, entferne ich mich von der möglichen “Droge”.

Doch mit unserem Informationskonsum ist es wie mit dem Essen. Nichts ist per se “gut” oder “schlecht”. Sondern es geht grundsätzlich um die Frage, ob ich gerade mich selbst oder meine Abhängigkeit von etwas nähre.

Anders gesagt:

“Esse ich, weil ich körperlich Hunger habe, oder esse (hungere, kotze) ich, um meinen emotionalen Hunger nicht spüren zu müssen?”

Oder auch:

“Konsumiere ich, weil mir der Content guttut, er mich interessiert, inspiriert und/oder amüsiert, oder konsumiere ich, um meinen emotionalen Hunger nicht spüren zu müssen?”

 

Das all-you-can-consume Buffet

Denn sowohl die sozialen Medien als auch das Smartphone sind letztendlich so konzipiert, dass sie uns in einer Unzufriedenheit halten, die zu mehr Konsum verleitet. Darüber hat Tristan Harris, ehemaliger Mitarbeiter von Google, bereits 2017 in seinem TED-Talk “How a handful of tech companies control billions of minds every day” (Link führt zu ted.com) informiert.

Gesellschaftlich gesehen ist das für mich so ein typisches Henne-Ei-Dilemma: Sollte man Fast-Food-Ketten verbieten, damit die Menschen das Zeug nicht mehr essen können? Oder sollten die Menschen das Zeug nicht mehr essen, damit die Fast-Food-Ketten nicht mehr rentabel sind?

Und warum gibt es das Zeug überhaupt? Weil wenige Menschen viel Geld dadurch verdienen. Und die sind sehr daran interessiert, uns möglichst früh abhängig zu machen. Nicht umsonst sind Fast-Food-Ketten so “kinderfreundlich”.

Ähnlich ist es mit den sozialen Medien in Verbindung mit unserem Smartphone. Es wurde und wird uns eingetrichtert, dass dadurch alles einfacher und bequemer wird, wir uns mit Freunden und Gleichgesinnten verbinden können.

(Digital) überfressen, emotional unterernährt

Doch viele Menschen fühlen sich – trotz oder gerade wegen des technischen Fortschritts – nicht verbundener, sondern isolierter. Und sie nehmen sich nicht als entlasteter, sondern als belasteter wahr. Noch nie gab es so viele abhängige, ängstliche und depressive Menschen wie heute (Link führt zu statista.com).

Daraus lässt sich durchaus schließen, dass hauptsächlich diese Handvoll Tech-Oligarchen vom technischen “Fortschritt” profitieren. Und zwar nicht zu knapp. Gesellschaftlich gesehen empfinde ich beispielsweise die Auswirkungen von Social Media mittlerweile sehr ernüchternd bis gefährlich.

Andererseits ist alles Digitale auch nur eine weitere Kompensationsmethode, eine neue mögliche Droge. Und solange wir nicht abhängig davon sind, kann uns ein potenzielles Suchtmittel – durch seine bloße Existenz – nichts anhaben. Doch wenn wir abhängig davon sind, können uns auch Verbote nicht vom Konsum abhalten.

Verbote nähren (Selbst)Vorwürfe

Deshalb kann für mich die Lösung nicht in Verboten und nicht mal in der Aufklärung über mögliche Abhängigkeitsgefahren liegen. Sondern immer wieder in der Frage, wonach wir innerlich tatsächlich so sehr hungern und wie wir diesen Hunger wirklich stillen können.

Denn wenn wir emotional satt sind und es in unserem ErLeben nichts zu verdrängen oder zu unterdrücken gibt, sind potenzielle Suchmittel für uns uninteressant und/oder ungefährlich.

Beispielsweise ist kaum jemand so “aufgeklärt” über Lebensmittel, Kalorien, Ernährungstrends & Co. wie Essgestörte. Und kaum jemand verbietet sich so viel. Es ist kein Zufall, dass viele Essgestörte Ernährungsberaterinnen sind.

Doch dieses Wissen und Verbieten hat noch keiner Betroffenen geholfen, ihre Abhängigkeit hinter sich zu lassen. Im Gegenteil, Verbote, die dauerhaft nicht eingehalten werden können und Wissen, das nicht permanent angewendet werden kann, machen ein noch schlechteres Gewissen. Und das wiederum nährt die Essproblematik.

Mal wieder “Balance, Baby!”

Unser Umgang mit dem technischen Fortschritt ist also auch ein persönlicher Balance-Akt. Wie viel wovon tut mir wirklich gut? Was kann ich wie sinnvoll (be)nutzen? Denn selbstverständlich haben Smartphone & Co. auch Vorteile. Doch vielleicht sind die Antworten auf die Fragen: “Was will ich nicht (mehr)?” und “Was tut mir nicht gut?” noch wichtiger.

Ich kenne beispielsweise einige MindMates, die von sich erwarten, dass sie ständig zur Verfügung stehen und auf sämtliche Nachrichten zeitnah antworten müssen. Und obwohl diese Erwartungshaltung sie unter Druck setzt, fällt ihnen die Veränderung schwer. Warum? Weil sie befürchten, dass sie nicht mehr dazugehören, dass andere sie nicht mehr mögen, falls sie nicht permanent erreichbar sind.

Diese MindMates sind abhängig durch folgende Annahme:

“Wenn ich immer verfügbar bin, gehöre ich dazu und werde gemocht. Das gibt mir das Gefühl, wertvoll und wichtig zu sein. Und deshalb nehme ich mich kurzfristig als (einigermaßen) gut genug wahr.”

Doch dadurch ergibt sich folgendes Dilemma:

Um dich kurzfristig (einigermaßen) gut fühlen zu können, musst du dich weiterhin dem Druck aussetzen, ständig erreichbar zu sein. Und das tut dir nicht gut.

 

Natürliche Selektion

Doch was passiert, wenn du das tust, womit du dich kurzfristig nicht gut fühlst, was dir aber langfristig guttun wird? Wenn du also nicht mehr permanent zur Verfügung stehst? Dadurch stellt sich dann auch quasi automatisch raus, wem es wirklich um dich geht. Denn diejenigen werden dein neues Verhalten akzeptieren.

Wer das nicht tut, und sich bei dir beschwert, dem geht es letztendlich nur um sich selbst. Ich nenne das die “natürliche Selektion von Beziehungen”. Denn wer deine Grenzen nicht akzeptiert, der tut dir nicht gut. Und entweder wenden sich diese Menschen von dir ab, oder du erkennst ihr egoistisches Verhalten und wendest dich hoffentlich von ihnen ab.

Mir ist bewusst, dass das leichter klingt, als es für viele MindMates ist. Denn selbst wenn sie erkennen, dass ihnen jemand oder etwas nicht guttut, fällt es ihnen schwer, aktiv eine Grenze zu setzen:

Die SchuldFalle

Eine MindMate erzählte mir mal, dass sie von einem Kollegen belästigt wurde. Er bombardierte sie via Handy mit Nachrichten. Einerseits kotze er sich verbal über seine Eheprobleme aus und andererseits machte er ihr anzügliche Komplimente. Und je aufdringlicher er wurde, desto mehr geriet sie unter Druck.

Sie blockierte ihn und fühlte sich sehr schlecht dabei. “Der arme Mann, er hat doch so viele Probleme und ich bin so gemein zu ihm”, meinte sie und hob die Blockierung wieder auf. Was hier passierte, war eine Art “Täter-Opfer-Umkehr”.

Als sie seine Übergriffe nicht mehr aushielt, die er nach mehrfachem Auffordern und Bitten nicht einstellte, schaltete sie endlich ihren Chef ein. Und danach fühlte sie sich wieder schuldig. “Jetzt verliert der arme Mann meinetwegen womöglich noch seine Arbeit!”, warf sie sich vor.

Grenzenlose Angst vor Ablehnung

Die tief in uns verankerte Angst vor Ablehnung und deren möglichen Folgen kann uns regelrecht grenzenlos machen. Grenzenlos im Sinne von:

“Ich bin bereit, jegliches Leid zu tragen, solange du nicht leidest und mich deshalb magst.”

Das ist das hilflose Verhalten eines Kindes, das einer Situation ausgeliefert ist und den “Leid-Verursacher” braucht, um versorgt zu werden. Und das gilt es zu sehen und zu verstehen.

Doch die Realität kann heute sein:

“Ich beende das Leid, das du in mir auslöst. Und weil du das tust, mag ich dich nicht. Auch brauche ich dich nicht. Entweder du änderst unmittelbar dein Verhalten oder du trägst die Konsequenzen.”

Ja, es ist enorm wichtig, unsere Grenzen zu kennen und sie einzuhalten, beziehungsweise dafür zu sorgen, dass sie eingehalten werden. Doch eine Voraussetzung dafür ist, zu verstehen, warum wir so grenzenlos leidensfähig geworden sind.

Grenzenlosigkeit weißt auf Abhängigkeit hin

Grenzen sind ein gutes Stichwort. Denn in Bezug auf mein anfängliches Dilemma mit dem Newsletter geht es auch um Grenzen. Und Grenzenlosigkeit weißt immer auf eine “System-Abhängigkeit” hin.

Das zeigte sich beispielsweise darin, dass ich meinte, regelmäßig einen Newsletter verschicken zu müssen und zu können. Warum meinte ich das? Weil viele Online-Marketing-Experten das empfehlen. Diese Regelmäßigkeit soll Vertrauen schaffen, eine gewisse Verlässlichkeit zeigen und so zu einer Gewohnheit für Konsumenten werden. Und ja, daran mag durchaus etwas sein.

Aber weder kann ich das leisten, noch will ich es. Denn ich habe kein Team, das mich dabei unterstützen könnte, und ich will auch keins. Und ich möchte mir auch nichts aus den Fingern saugen müssen, nur weil die Woche rum ist und es Zeit für einen neuen Newsletter ist. Diese ganze Idee engt mich ein und etwas in mir rebelliert dagegen. Dieses Etwas ist mein Selbst, mein wahres Ich. Und ich will schreiben, wenn ich etwas zu sagen habe und nicht dann, wenn andere meinen, ich sollte etwas zu sagen haben. Genausowenig möchte ich euch zu permanentem Content-Konsum animieren.

Es geht also auch für mich manchmal noch darum, die unrealistischen und ungesunden Wunschbilder zu sehen und zu verstehen, die durch Systeme – in diesem Fall sind das die selbsternannten “Online-Marketing-Experten” – in meinem Mind entstehen. Doch meine “innere Rebellin” weiß auch, dass “effektives” Marketing meistens eine ordentliche Portion an Manipulation beinhaltet. Und das ist nicht meins. Deshalb – befürchte ich – wird das einzig Regelmäßige der MindMail die Unregelmäßigkeit bleiben.

Mind the dilemmas.

MindMuse Simone