Bulimie: Was ich vom “Ochsenhunger” gelernt habe

Bulimie zu haben ist zum Kotzen. Blödes Wortspiel, weiß ich selbst. Denn als ich von der Magersucht in die Bulimie kippte, war das einer der emotional schlimmsten Momente meines Lebens. Dieses Gefühl der absoluten Hilflosigkeit, die bodenlose Scham, Die abgrundtiefe Angst und die haushohen Selbstvorwürfe, all das löste die Bulimie in mir aus. 

Die Bulimie ist eine Abhängigkeit der Extreme, viel rein und viel wieder raus. Daher auch der medizinische Fachbegriff „Bulimia Nervosa (griechisch)“, der mit „Ochsenhunger“ übersetzt werden kann. Und ja, als ich Bulimie hatte, konnte ich „fressen wie ein Ochse“. Und im selben Maß hat die Bulimie enorme Portionen meiner Lebensqualität, meiner Selbstachtung, meines Geldes und meiner Gesundheit verschlungen. 

Bulimie: Das große Kotzen

Als ich Bulimie hatte, war ich regelrecht besessen. Und zwar vom Essen, von meinem Aussehen und von meinem Gewicht. Einen Großteil des Tages drehten sich meine Gedanken um diese weltbewegenden Themen.

Und an zu vielen Tagen wurde mein (Über)Leben von der Bulimie bestimmt. Dann war ich spätestens am Nachmittag damit beschäftigt, Essen zu beschaffen, zu verschlingen und anschließend wieder loszuwerden. Die Bulimie ist ein Teufelskreis, der schnell zu einer Abwärtsspirale werden kann.

Nach jedem Rückfall in die Bulimie war der Tag innerlich für mich abgehakt und gelaufen. Das führte häufig zu weiteren Rückfällen frei nach dem Motto: „Der heutige Tag ist komplett im Arsch, ich bin die größte Looserin des Universums, aber hey, ab morgen muss alles perfekt werden!“ Mal wieder so ein ungesund extremer Gedanke, der dazu führte, dass dieser perfekte Morgen einfach nicht kommen wollte. Komisch, oder? Ironie off.

Was aber kam, war ein Morgen mit einem schmerzenden Hals, einem aufgedunsenen Gesicht und mit Kreislaufproblemen, garniert mit einem unermesslichen Gefühl des Versagens. Der typisch bittere Beigeschmack der Bulimie eben.

Dann kam der Gang auf die Waage – ein Moment, der sich wie eine öffentliche Hinrichtung anfühlte. Dieses harmlose Messinstrument war für mich zugleich Scharfrichterin und Stimmungsbarometer.

Bulimie

Das Problem hinter dem Problem

Hätte ich niemals Bulimie gehabt, würde ich mich spätestens an dieser Stelle fragen: „Warum zur Hölle macht man sowas?“ Und das ist eine gute Frage. Viele Bulimikerinnen würden sie kleinlaut mit „Das weiß ich auch noch so genau, doch es fehlt mir an Willenskraft und Disziplin und ich will auf keinen Fall noch mehr zunehmen.” beantworten.

Und das ist die eher nette Variante der Antwort. Denn die extreme Selbstverurteilung gibt es schließlich, so gratis wie das Spielzeug zum Happy Meal, zur Bulimie dazu. Diese Antwort wäre lange Zeit auch meine gewesen.

Doch rückblickend beschreibe ich die Bulimie als eine Sackgasse. Am Ende stand das Schild: “Falsche Richtung, hier geht es nicht weiter.” Doch mein Problem war nicht die Sackgasse selbst – sondern, dass ich das Schild immer wieder ignorierte.

Was ich damit meine, ist Folgendes: Ja, ich hatte Bulimie und die wurde mit der Zeit zu einem echten Problem. Aber mein eigentliches Problem war weder meine Willenskraft noch mein Gewicht oder mein Aussehen. Nicht deshalb bekam ich Bulimie.

Mein ursprüngliches Problem war mein unersättlicher Hunger nach Aufmerksamkeit und Anerkennung. Und dieser Hunger wurde genährt von der falschen Annahme, dass es für „äußerliche Perfektion“ von anderen Menschen Beachtung und Bestätigung geben würde und ich mich dadurch besser, sicherer und endlich gut genug fühlen würde. 

Dass genau das nicht funktioniert, hatte ich eigentlich schon in meiner Magersuchtsphase durchlebt. Denn nach jedem kurzen Hochgefühl, das ein verlorenes Gramm oder ein gewonnenes Kompliment in mir auslöste, fühle ich mich wieder so unsicher und ungenügend wie zuvor.

Doch anstatt meine Annahme zu hinterfragen, die Sackgasse zu erkennen und “falsche Richtung, hier geht es nicht weiter” zu verstehen, hinterfragte ich weiterhin meinen Körper. Er war das Schlachtfeld, auf dem mein ver-rückter Kopf seine zerstörerischen Kämpfe austrug.

People Pleasing Deluxe

War ich alleine, drehte sich in meinem Bulimie-Kopf alles um Essen, Gewicht und Aussehen, war ich mit anderen zusammen, drehte sich alles um die anderen.  Auch im “es allen anderen recht machen wollen” kannte ich die extreme Variante. Das bedeutete übermäßige Anpassung, ständige Verfügbarkeit, große Angst vor Ablehnung und Perfektionismus im Dasein für andere.

Doch es ging nie wirklich um die anderen. Es ging um mich, um das, was ich mir von den anderen erhoffte und was ich von ihnen zu glauben brauchte: Aufmerksamkeit und Anerkennung. Dafür war ich bereit, fast alles zu tun. Und ich war sehr gut darin. Meine Sinne und Sensoren waren darauf ausgerichtet, wahrzunehmen, wie ich mich verhalten und was ich sagen sollte, damit andere mich gut fanden.

Ich sah mich mit den Augen der anderen und formte gleichzeitig das Bild, das sie meiner Meinung nach sehen wollten. Einerseits spielte ich also eine Rolle, die ich andererseits permanent dem Publikum angepasst habe.

Wegen dieser Doppelfunktion kann People Pleasing sehr anstrengend sein. Doch grundsätzlich empfinde ich es rückblickend als kontrollierend, manipulierend und egoistisch. Das kann ich heute sagen, weil ich mich nicht mehr dafür schäme oder schuldig deswegen fühle.

Denn ich habe es weder bewusst getan, noch habe ich mich so verhalten, um anderen zu schaden. Geschadet habe ich mir damit lediglich selbst. Denn der Preis für People Pleasing waren zahlreiche Rückfälle in die Bulimie.

Und ich weiß heute, wie absurd und unlogisch das “People Pleasing Spiel” von Beginn an gewesen ist. Denn selbst wenn ich positives Feedback bekam, so hatte es keinerlei Nährwert. Denn ich wusste doch, dass diese Rückmeldung nicht mir, sondern der Rolle, die ich gespielt hatte, galt.

Rock Bulimie-Bottom

Es gibt nur einen Punkt, von dem es sicher bergauf gehen kann. Und das ist der absolute Tiefpunkt. Dort bleibst du entweder liegen oder du rappelst dich auf und beginnst, mühsam hochzukraxeln. Das Gute an diesem Tiefpunkt ist folgende Tatsache:

Du kannst nicht mehr so weitermachen, wie bisher, denn noch weiter runter geht es nicht.

Bis zu diesem Zeitpunkt ist die innere Waage zwischen “Mein Zustand ist elend, aber er ist mir vertraut und bietet mir daher eine Art Sicherheit” und “Ich leide elendig, vielleicht sollte ich mich auf unsicheres und nicht vertrautes Terrain begeben” relativ ausgeglichen. Am absoluten Tiefpunkt angekommen, wird das Gewicht des Leids so schwer, dass die Waage kippt.

Irgendwann war ich psychisch und physisch so im Eimer, dass ich begann, mein Denken und Handeln zu hinterfragen: War das, was ich glaubte, wovon ich absolut überzeugt war, meine Realität, womöglich nicht wahr? Denn hatte nicht genau das mich zuerst in die Magersucht und dann in die Bulimie geführt? Diese Gedankengänge waren ganz schön beängstigend. Denn sie brachten mein komplettes Lebenskonstrukt ins Wanken.

Das kleine Etwas mit großer Weisheit

Und doch war da auch ein kleines, leises und zaghaftes Etwas in mir, das wusste, dass dieser Weg die einzig gangbare Alternative zu “friss und kotzt dich tot” war: “Erkenne die Sackgasse, akzeptiere das Hinweisschild, finde die Kreuzung, an der du falsch abgebogen bist und gehe in eine andere Richtung.”

Es war immer dagewesen, dieses Etwas in mir. Es warnte mich sogar damals, als ich zum ersten Mal beschloss, zu kotzen. “Tu das nicht!”, sagte es, “Das wird kein gutes Ende nehmen.” Und dieses Etwas sagte das zu einem Zeitpunkt (1990), zu dem ich Wörter wie “Essstörung” oder “Bulimie” noch nie gehört hatte. Eine Zeit lang war ich der Meinung, diese “elegante Lösung” quasi erfunden zu haben. Zwar kannte dieses Etwas den Begriff Bulimie nicht, doch es wusste das Unwissbare.

Aber in meinem Leben war kein Platz für dieses Etwas. Alles drehte sich um mein Essverhalten, mein Aussehen, mein Gewicht und um die anderen, bzw. auf deren Reaktion auf mich. Und die Bulimie war das Ergebnis davon. Mein ganzes Dasein war so verkopft.

Mein Kopf war der mächtige Boss, dessen Job es war, den lästigen Körper zu unterwerfen, zu bezwingen, zu beherrschen. Denken, denken, denken, immer wieder dieselben Gedanken, die zu denselben Handlungen mit demselben Ergebnis führten, dessen Spiegel die Bulimie war.

Das Etwas ist im Körper, nicht im Kopf

Am Tiefpunkt angelangt begann ich, dieses Etwas bewusster wahrzunehmen. Was war das? Wer war es? Und was wollte es? Hatte ich womöglich mit aller Macht versucht, dieses Etwas unter Massen von Essen zu begraben und auszukotzen? Weil ich es nicht wahrnehmen wollte?

Aber war es nicht genau dieses Etwas gewesen, was immer wieder versucht hatte, zu mir durchzudringen? Und was – in den wenigen Momenten, in denen ich es wahrnahm – stets ein besserer Ratgeber als mein Kopf gewesen war?

Für dieses Etwas gibt es interessanterweise keinen eindeutigen Namen, keine “korrekte” Bezeichnung, in unserer Sprache. Wir nennen es unter anderem: authentisches Ich, inneres Wesen, Persönlichkeitskern, wahre Identität, höheres Selbst, Seelenessenz, inneres Licht, unverstelltes Selbst, göttlicher Funke, Essenz des Seins, Seelenkern, eigentliche Natur, echtes Ich, usw.

All diesen Bezeichnungen ist gemein, dass es um etwas Essenzielles in uns geht, das möglicherweise eine Verbindung zu etwas Größerem, Höherem und außerhalb unseres Körpers Gelegenem hat. Ich bezeichne es schlicht und ergreifend als ICH SELBST beziehungsweise als MEIN SELBST oder als MEINE SEELE.

Und die Sprache, die dieses Selbst nutzt, nennen wir beispielsweise Intuition oder Bauchgefühl. Ich nenne sie häufig “mein inneres Feedback-System”. Nicht um sonst sagen wir: “Das habe ich aus dem Bauch raus entschieden” oder: “Mein Herz sagt mir, dass …”

Doch weil ich völlig verlernt hatte, auf diese Stimme zu hören, sie überhaupt wahrzunehmen, hat mein Selbst durch die Bulimie gebrüllt. Genauso, wie ich mein Selbst unterdrückt hatte, hatte ich auch meinen Körper mithilfe meines Kopfs unterdrückt. Nicht mehr er war zuständig für Hunger und Sättigung oder Bewegung und Ruhe.

All das hatte ich in der Annahme getan, dass “der Gegenspieler” des Selbst im Außen, das System, also andere Menschen, wichtiger und mächtiger waren, als ich selbst. Ich war mental und emotional abhängig von diesen Systemen, denn ich glaubte ja, dass nur sie mir geben könnten, wonach ich hungerte. Denn das war es, was Systeme (Familie, Gesellschaft, Schule, Kirche) mich als Kind gelehrt hatten.

Es brauchte die Bulimie, um mich eines Besseren zu belehren und um zu erkennen, dass diese Abhängigkeit von mir aufrechterhalten wurde. Die Auseinandersetzung mit der Bulimie machte mich innerlich erwachsen und unabhängig.

Das perfekte Leben ohne Bulimie

Seit ich ohne Bulimie lebe, könnte man denken, ich würde nun im „Friede-Freude-Eierkuchen-Land“ wohnen und täglich strahlend auf einem Einhorn durch den Regenbogen reiten. Zumindest scheinen einige MindMates mein Leben so zu interpretieren.

Doch so extrem anders als früher ist mein Leben nicht – zumindest nicht äußerlich. Die eigentliche Veränderung hat in mir stattgefunden.

Der entscheidende Punkt war das Herstellen des Gleichgewichts zwischen Selbst und System. Früher gab ich dem System (also äußeren Erwartungen und gesellschaftlichen Normen) das meiste Gewicht. Mein Selbst  blieb dabei im Hungerzustand. Heute achte ich darauf, dass mein Selbst so viel Gewicht bekommt, dass es die äußeren Einflüsse ausgleichen kann.

Konkret bedeutet das:

Ich nehme meine persönlichen Bedürfnisse ernst.
Ich setze und wahre meine Grenzen sowohl gegenüber mir selbst als auch gegenüber anderen.

Das Leben ist manchmal schwer – das kann ich nicht ändern. Aber ich habe aufgehört, es mir noch schwerer zu machen. Früher trug ich eine zusätzliche Last, die ich nur mithilfe der Bulimie (er)tragen konnte.

Erst mich selbst gewonnen, dann die Bulimie verloren

Heute weiß ich: Nicht ich selbst war so sehr zum Kotzen – sondern die Tatsache, dass ich mich selbst, unter der falschen Annahme, falsch zu sein, so lange unterdrückt hatte.

Im Laufe der Jahre habe ich viele MindMates mit Bulimie kennengelernt. Und eines ist mir dabei immer wieder aufgefallen: Sie sind überdurchschnittlich – oftmals extrem – intelligent, empathisch und willensstark. Diese wertvollen Qualitäten des Selbst kleinzuhalten, zu unterdrücken und ungesunden System unterzuordnen, macht krank und unglücklich.

Und deshalb kann ich sagen: Ich habe verdammt viel von diesem verf*** Ochsenhunger gelernt. Jedes System ist die Summe einzelner Selbsts. In manche Systeme integriere ich mich heute und anderen gegenüber bin ich voller Überzeugung stur wie ein Ochse.

Mind your self.

MindMuse Simone 

P.S.:

Um klarer zu machen, dass die Bulimie eine ernsthafte Erkrankung sein oder werden kann, weise ich nach dieser sehr persönlichen und subjektiven Sicht nochmal auf die Seite der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung hin. Hier wird erklärt, was Bulimie ist, was sie auslösen kann, warum man sich unbedingt medizinisch und/oder psychologisch behandeln lassen sollte und wie die Behandlung aussehen kann.

Auch ich war wegen der Bulimie und depressiven Episoden für 12 Wochen in einer Klinik und habe ungefähr drei Jahre lang eine Selbsthilfegruppe besucht. Was ich allerdings nie gemacht habe, ist eine typische, von Krankenkassen finanzierte Psychotherapie. Stattdessen habe ich ein Jahr lang eine Therapie bei einer Heilpraktikerin für Psychotherapie gemacht, die ich selbst zahlen musste.

Denn bei dieser Therapeutin fühlte ich mich einerseits sehr wohl und andererseits waren körpertherapeutische Elemente Teil dieser Therapie. Das bedeutet aber selbstverständlich nicht, dass ich von konventionellen Therapiemöglichkeiten abrate.

Doch meiner Erfahrung nach kommen Körper- und Kunsttherapie in klassischen Behandlungen oft zu kurz. Der unstillbare Hunger der Bulimie ist letztendlich ein emotionaler Hunger, und unsere Emotionen sitzen im Körper. Außerdem spielt das autonome Nervensystem eine entscheidende Rolle. Und auch das können wir nicht mit unserem Kopf “steuern”.

Weiterhin ist kreativer AusDRUCK in Form von Schreiben, Malen oder was auch immer – eine hilfreiche Möglichkeit, dem Druck, der durch das Unterdrücken des SELBST entsteht, anders zu begegnen. Bei der Auseinandersetzung mit Bulimie geht es meiner Meinung nach einerseits darum, weniger Druck in uns entstehen zu lassen und andererseits anders mit dem vorhandenen Druck umgehen zu können.

Deshalb stößt eine reine Gesprächstherapie bei Bulimie, bzw. bei Essstörungen generell, häufig an Grenzen. Auch bin ich der Meinung, dass der Fokus zu oft und zu viel auf dem Essenverhalten (Symptom) und zu wenig auf den Ursachen der Bulimie, bzw. Essstörung, liegt.

Das Essverhalten, bzw. Essen, muss natürlich dann erst mal im Vordergrund stehen, wenn jemand lebensbedrohlich über- oder untergewichtig ist und/oder sich sehr häufig und täglich mehrfach übergibt. In einem solchen Fall würde ich dringend zu einem Klinkaufenthalt raten.

Genau so wenig wie es das perfekte Leben gibt, gibt es die perfekte Therapie. Aber es gibt Hilfe bei Bulimie, und es kann enorm helfen, diese auch anzunehmen. Doch der entscheidende Part ist und bleibt für mich, nach einer “therapeutischen und/oder medizinischen Starthilfe”, die SELBST HILFE.

P.S.S.:

Im “Tagesablauf einer Essgestörten” (Link führ zu YouTube) haben Veronika und ich vor Jahren versucht, die Bulimie ohne Worte darzustellen.