Lesen: Eine gute Geschichte ist so nährend wie ein gutes Erlebnis
Lesen konnte ich früh und gut, denn Bücher waren meine erste große Leidenschaft und meine wichtigste Zuflucht. Und ich liebe das Lesen bis heute.
Ehrlich gesagt habe ich nicht viele schöne oder leichte Momente aus meiner Kindheit. Das liegt nicht daran, dass ich schlecht behandelt wurde. Der Grund ist, dass ich das kränkliche Sorgenkind der Familie war. Und als solches fühlte ich mich schuldig, denn ich empfand mich als eine Last: Wäre ich nicht da, müsste sich niemand um mich sorgen. Durch das Lesen konnte ich die Rolle des Sorgenkinds verlassen und in andere schlüpfen.
Noch heute erinnere ich mich daran, wie aufregend anders es war, mit Enid Blytons “Dolly” im Internat “Burg Mövenfels” zu sein. Zunächst las mir meine Mutter diese Bücher vor. Und die Liebe zum Lesen habe ich definitiv ihr zu verdanken. Das Vorlesen habe ich genossen, doch ich weiß auch noch genau, wie frei ich mich fühlte, als ich niemanden mehr zum Vorlesen brauchte.
Das Lesen eröffnete mir andere Welten und das tut es bis heute. Und das Lesen von Romanen oder (Auto)Biografien ist für mich mehr als eine Freizeitbeschäftigung. Inspirierende Geschichten von Frauen haben mich vor allem in den Zeiten meines Lebens über Wasser gehalten, als ich mich so anders als alle anderen fühlte.
Das Großartige an einer fesselnden Geschichte ist, dass wir beim Lesen quasi eine Art ganzheitliches Erlebnis haben. Oftmals können wir uns in die Geschichten der Protagonistin hineinfühlen und mitfiebern. Und das ist anders, als das Lesen eines Ratgebers, der lediglich unseren Verstand anspricht.
Lesen ist gesund
Eine Studie an der University of Sussex (Link führt zur Walton Library, Newcastle University, UK) hat 2009 herausgefunden, dass das Lesen den aktuellen Stresspegel um bis zu 68% senken kann. Hierzu stressten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler die Teilnehmenden zunächst durch diverse Tests, die deren Herzfrequenz messbar erhöhte. Danach saßen die Teilnehmenden sechs Minuten lang still und lasen. Innerhalb dieser sechs Minuten beruhigte sich das Herz und die Anspannung nahm ab. Zwar wird ein großer Teil der Entspannung dem ruhigen Sitzen zugeschrieben, doch dazu sind wir beim Lesen ja quasi verdonnert.
Und während das ruhige Sitzen beispielweise beim Meditieren eine Herausforderung für viele ist, so haben die meisten beim Lesen kein Problem damit. Das liegt wahrscheinlich daran, dass der Mind beim Lesen beschäftigt ist, während ein Ziel des Meditierens ja darin liegt, den Mind zu beobachten.
Diverse Studien (Link führt zu AOK.de) weisen außerdem darauf hin, dass Lesen eine gute Demenz-Prävention ist, die Lebenserwartung verlängert und Gehirnregionen positiv beeinflusst, die für Körperempfindungen zuständig sind. Und ja, auch hier kann man sich beispielsweise die Frage stellen, ob es wirklich das Lesen ist, das die Lebenserwartung verlängert, oder ob Menschen, die (viel) lesen, grundsätzlich auch gesünder und deshalb länger leben.
Dann gibt es auch noch eine Studie über den Zusammenhang zwischen Lesen und Empathie (Link führt zu researchgate.net). Hierbei wurde herausgefunden, dass sich die empathischen Fähigkeiten der Teilnehmenden durch das Lesen von Literatur – im Gegensatz zur Lektüre von Sachbüchern oder leichter Unterhaltungsliteratur – sofort verbesserten. Kritiker dieser Studie argumentieren, dass Empathie nicht nur positiv zu sehen ist und/oder dass die Studie gar nicht so aussagefähig ist.
Buch ist nicht gleich Buch
Ich persönlich finde einen Aspekt dieser Studie sehr spannend und nachvollziehbar. Denn die Forscher fanden signifikante Unterschiede zwischen dem Lesen von Unterhaltungslektüre und Literatur (wo auch immer da die genaue Grenze liegen mag) heraus. Waren die Bücher eher seicht, vorhersehbar und eindimensional, gab es keine messbaren Effekte. Waren die Bücher jedoch vielschichtig, rätselhaft und konfrontierten beispielsweise mit Vorurteilen, gab es messbare Effekte.
Daraus können wir schließen, dass das Lesen von Literatur, die uns fordert, uns auch fördern kann. Sofern wir das denn wünschen. Denn ich finde es absolut in Ordnung, leichte, literarische Kost zu lesen, solange wir das Lesen genießen. Beginne ich allerdings ein Buch, das mir nach einigen Seiten zu einfach und vorhersehbar scheint, lese ich das Buch nicht zu Ende. Denn solche Geschichten sind mir zu unglaubhaft und deshalb uninteressant. Das ist wie bei einem schlechten Fernsehkrimi, wenn ich schon in Minute fünf weiß, wer der Mörder ist.
Lesen ist Geschmackssache
Auch habe ich beispielsweise den Hype, den “50 Shades of Grey” ausgelöst hat, nie verstanden. Vor Jahren habe ich mal in das Hörbuch reingehört: Und alles an dem Protagonisten war so perfekt, er war sooooo reich, sooooo schön, soooo gut bestückt. Dementsprechend war die Protagonistin zunächst sooooo unschuldig und unberührt. Diese eindimensionalen und stereotypen Extreme, gähn! Und dann gab es da noch ihre “innere Göttin”, die ständig “hüpfte”. Ich fand das unglaubhaft und lächerlich und lächerlich unglaubhaft.
In solche – für mich enorm unrealistischen – Geschichten kann ich nicht eintauchen, nicht durch sie abtauchen. Denn in meinem Mind leuchtet dann permanent die “Bulshit-Glühirne” auf. Aber hey, auch das Lesen ist eben Geschmackssache.
Was mich grundsätzlich an solchen Geschichten stört, ist, dass sie unrealistische Geschichten als real möglich darstellen. Dieses “Der Prinz auf dem weißen Pferd wird dich zu seiner Prinzessin machen und ihr werdet auf ewig gemeinsam in den Sonnenuntergang reiten”. Durch das Lesen solcher Stories kann ein ungesund unrealistisches Bild vom Leben und von der Liebe genährt werden.
Ist Lesen eine Flucht vor der Realität?
In meinem Leben gab es Zeiten, da war das Lesen häufig eine Flucht vor der Realität. Mittlerweile ist es ein bewusstes und wohltuendes Abwenden von der Realität, positiver Eskapismus also. Denn wie bei so vielen Dingen geht es auch beim Lesen um das Maß und um die Balance.
Um zu klären, ob unser Eskapismus durch Lesen eher positiv oder negativ ist, kann folgende Frage helfen:
Ist das Lesen ein Bestandteil meiner Selbstfürsorge oder hält es mich davon ab?
Mind your escapism.
MindMuse Simone