Roadtrip mit Rollentausch
Hast du schon mal einen Roadtrip gemacht?
Gerade ist Sommer, es ist Urlaubszeit und wir haben Besuch aus den USA. Und vielleicht denke ich deshalb vermehrt an den legendären Roadtrip, denn ich in 2000 mit meiner Mutter durch Kalifornien gemacht habe.
Die Vorgeschichte
Sowohl meine Mama als auch die USA spielen eine gewichtige Rolle auf meinem Weg SelbstErlebnisWeg. Meine Mutter hat mich in meiner Kindheit eher überbehütet und unterfordert. Und das kann ich heute, zumindest teilweise, nachvollziehen. Denn ich war ein kränkliches Kind und erst als ich bereits 19 Jahre alt war, haben Ärzte einen Gendefekt als Ursache meiner Symptome herausfinden können. Doch dass mir zu vieles abgenommen und zu wenig von mir erwartet wurde, hat meinem Selbstbild nicht gutgetan.
Denn ich traute mir selbst zu wenig zu und zweifelte ständig an mir. Das änderte sich erst, als ich in die Pubertät kam und eine scheinbar positivere Form der Aufmerksamkeit kennenlernte. Eine Aufmerksamkeit, die sich auf mein Aussehen bzw. auf meinen Körper bezog. Und einerseits wollte ich unbedingt mehr von dieser Aufmerksamkeit, während ich gleichzeitig die Menschen anzweifelte, die sie mir gaben. Denn sie beurteilten nur eine Fassade und waren scheinbar nicht in der Lage, dahinter zu schauen. Und das, was sich dahinter verbarg, hielt ich selbst für nicht gut genug. Also fokussierte ich mich selbst immer mehr auf das Aufrechterhalten dieser Fassade. Und ich zahlte einen hohen Preis dafür, denn ich wurde zunächst magersüchtig und kippte – ausgelöst durch ein Beziehungsdrama – in die Bulimie.
Als ich dann nach jahrelangen Versuchen, mein Essverhalten bzw. die Essstörung in den Griff zu bekommen, endlich aufgab und begann, mich mit den Ursachen zu beschäftigen, kam ich mit den Overeaters Anonymous (OA) in Berührung, deren Meetings in Deutschland ich ungefähr drei Jahre lang besuchte. Die OA sind ein Ableger der in den USA gegründeten Anonymen Alkoholiker.
Roadtrip 1 und 2
Ebenfalls in meiner Jugend begann meine Faszination für Kalifornien. Das war ein Grund, warum ich vor meinem Studium als Au-pair in die USA ging. Der andere Grund war die Hoffnung, dass ich weit weg von zu Hause auch meine Probleme – vor allem die Bulimie – hinter mir lassen konnte. Doch dem war natürlich nicht so. Am Ende meiner Au-pair Zeit hatte ich begriffen, dass ich die Essstörung überall hin mitnehmen würde. Ganz einfach deshalb, weil ich mich selbst immer im Gepäck hatte. Und – da ich meine Au-pair Zeit an der Ostküste verbracht hatte – reiste ich danach für 10 Tage mit einer Freundin nach New York und machte anschließend mit ihr meinen ersten, mehrwöchigen Roadtrip durch Kalifornien.
Kalifornien entsprach meinen Erwartungen und übertraf sie sogar teilweise. Es faszinierte mich und ich liebte es, die komplette Küste entlang. Zurück in Deutschland begann ich zu studieren und ich suchte mir einen Job. Denn ich wollte mindestens einen weiteren Roadtrip durch diesen faszinierenden Bundesstaat machen. Als ich erfuhr, dass es einen mehrtägigen OA-Retreat in Santa Cruz gab, meldete ich mich an. Vorab hatte ich Kontakt mit einer älteren Dame, die mich einlud, bei ihr zu wohnen. Also ging es erneut nach Kalifornien und meine Schwester und ihr Freund reisten mir nach. Und mit den beiden startete ich einige Tage nach dem Retreat meinen zweiten Roadtrip entlang der Westküste.
Die darauffolgenden Sommer-Semesterferien verbrachte ich komplett in der Hochgratklinik im Allgäu. Und dort lernte ich eine Freundin kennen, die später nach Los Angeles auswanderte. Ich begann, noch mehr zu arbeiten, um mir auch noch ein Jahr lang Therapie zu finanzieren. Und als ich mit dem Studium fertig war, war ich es bereits mit der Essstörung.
Roadtrip 3
Mein dritter und bis heute letzter Roadtrip durch Kalifornien stand an. Dieses Mal mit meiner Mutter. Denn sie hatte immer zu mir gesagt: „Wenn du mit dem Studium fertig bist, fliegen wir zusammen hin und du zeigst mir alles.“ Als es dann tatsächlich so weit war, musste ich sie ein wenig zu ihrem Glück zwingen. Doch im Sommer 2000 machten wir uns tatsächlich gemeinsam auf den Weg nach San Francisco.
Dieser Roadtrip war es eine besondere Erfahrung für uns beide. Denn von dem Moment an, an dem wir amerikanischen Boden betraten, tauschten wir komplett unsere früheren Rollen. Meine Mutter, die kaum Englisch spricht und bis dahin noch nie in den USA war, wurde abhängig von mir. Aber das wirklich Wertvolle war, dass es okay für sie war, sie traute mir zu, all das zu managen und die Verantwortung zu übernehmen.
Jetzt muss man hier berücksichtigen, dass wir damals Unterkünfte, Leihwagen, Tickets, etc. noch nicht bequem über das Internet buchen bzw. Informationen erhalten konnten. Ich hatte lediglich einen Plan in meinem Kopf und einen Reiseführer in meinen Händen. Und ich organisierte und fuhr unseren Mietwagen. Ehrlich gesagt weiß ich heute selbst nicht mehr so genau, wie das alles ohne Smartphone funktionierte. Doch das tat es. Irgendwie.
On the road
Und es war ein wirklich schöner Roadtrip mit vielen lustigen Momenten. So erinnere ich mich noch sehr genau daran, wie wir uns auf unserem Weg nach San Diego plötzlich auf einem 12-spurigen Highway wiederfanden. Meine Mutter schaute mich von der Seite an und sagte ganz trocken: „Wenn ich hier fahren müsste, würde ich mir in die Hose machen!“ Und wir lachten. Wir hatten viel Spaß auf dieser unbeschwerten Reise.
Besonders lustig war es, als wir in den Yosemite Nationalpark fuhren und einfach keine Unterkunft finden konnten. Es wurde immer später und die Liste in meinem Reiseführer wurde immer kürzer. Schließlich endeten wir in einer Blockhütte, irgendwo im Nirgendwo. Und dort bekamen wir ein schönes Doppelzimmer. Fährt man in den Yosemite, wird man ständig auf die dort lebenden Bären hingewiesen, die beispielsweise sehr geschickt im Aufbrechen von Autos sind, wenn sie darin Essen vermuten.
Zwar mussten wir nicht im Auto schlafen, das hatte ich auf Roadtrip eins und zwei tatsächlich erlebt, doch so richtig vertrauenserweckend war unsere Hütte mitten im Wald auch nicht. Als wir unser Zimmer mit zwei großen Betten betraten, grinste meine Mutter mich an und sagte: „Du bekommst das Bett an der Tür, dann frisst der Bär dich zuerst.“
Mein Roadtrip in die Unabhängigkeit
Das mag jetzt komisch klingen, aber dieser Satz war einer der wichtigsten, den meine Mutter je zu mir gesagt hat. Denn durch ihn wurde mir bewusst, dass sie nicht mehr das Bedürfnis hatte, mich beschützen zu müssen, dass sie mir zutraute, alleine klarzukommen. Und dass sie okay damit war. Sie brauchte es nicht (mehr), gebraucht zu werden und ich brauchte nichts mehr von ihr.
Durch diesen flapsigen Satz wurde mir bewusst, dass ich hatte, wonach ich mich so lange sehnte. Doch ich bekam es erst, als ich es mir selbst bereits gegeben hatte. Denn zuvor hatte ich verinnerlicht, dass ich es alleine kann, dass ich gut genug bin. Und das war es, was die Essstörung hatte verhungern lassen. Und es hatte mich offensichtlich so verändert, dass auch meine Mutter es verinnerlicht hatte.
Abgesehen von diesem Erlebnis ist die Moral von meiner Roadtrip-Geschichte, dass mir das Auseinandersetzten mit der Essstörung – neben all den Herausforderungen – auch viele schöne Begegnungen und Erlebnisse geschenkt hat. Denn ohne die ES wäre ich nicht in Santa Cruz gewesen und hätte die ältere Dame, bei der ich auch nach dem Retreat noch wohnen konnte und die ich mit meiner Mutter besucht habe, nicht kennengelernt. Und ich hätte auch nicht – nachdem meine Mutter zurück nach Deutschland flog – meine Klinikfreundin in LA besuchen und mit ihr einen weiteren großartigen Roadtrip nach Las Vegas und in den Grand Canyon machen können. Doch vor allem hätte ich diesen besonderen „Roadtrip mit Rollentausch” niemals so erleben können.
Deshalb ist es mir bis heute wichtig zu betonen, dass das Auseinandersetzen mit der Essstörung mir viel mehr gegeben hat, als die Essstörung mir genommen hat.
Mind your time outs.
MindMuse Simone