Das stille Örtchen
Kürzlich hatte ich ein interessantes Erlebnis.
Und wie die Überschrift vielleicht erahnen lässt, hatte ich eine Erkenntnis, während ich auf der Toilette saß. Nach dem eigentlichen Aha-Erlebnis, über das ich heute schreiben will, tauchte gleich eine weitere Frage auf:
Warum spielen Klos offensichtlich eine zentrale Rolle in meinem ErLeben?
Ich meine, ich war Bulimikerin und während dieser Zeit hatte ich eine problematische Beziehung zum Lokus. Wenn ich extrem vollgestopft war, brauchte ich das Ding, während es gleichzeitig das Symbol meines scheinbaren Versagens darstellte.
Vor vielen Jahren habe ich mir sogar eine Barbie mit Toilette gekauft, um dieses Dilemma bildlich darzustellen:
Akzeptanz als Voraussetzung für anderes Handeln
Und an diesem entscheidenden Tag in meinem Leben, an dem ich – vor mittlerweile über 25 Jahren – den letzten Rückfall in die Bulimie hatte, saß ich völlig erschöpft auf dem Boden neben der Toilette. Auch dort habe ich etwas Entscheidendes erkannt. Und zwar auf eine so körperliche Art, dass ich endlich tun konnte, was nötig war. Es war so, als wüsste ich plötzlich mit jeder Faser meines Körpers, was meinem Kopf theoretisch schon lange klar war.
Das theoretische Wissen war zwar die Voraussetzung, hat aber nicht zum konsequenten Handeln gereicht. Denn mir standen die alten, tiefen, extrem schmerzhaften und angstgesteuerten Gefühle im Weg. Doch als ich da saß, wusste ich, dass meine Altlasten erst dann ihre Macht über mich verlieren, wenn ich sie mitnehme. Ich habe aufgehört, gegen sie zu kämpfen. Und dann konnte ich tun, was damals für mich notwendig war:
Ich habe den Kontakt zu meinen Eltern abgebrochen. Und zwar nicht, weil ich schreckliche Eltern hatte. Denn das Gegenteil ist der Fall. Sondern, weil ich eine zu enge Beziehung zu meiner Mutter hatte und mich ungesund verantwortlich für sie und abhängig von ihr fühlte.
Weil sie sich in meiner Kindheit zu verantwortlich für mich – besser gesagt für meine genetisch bedingte, chronische Erkrankung – fühlte. Deshalb schonte sie mich zu häufig und nahm mir zu vieles ab. Und ohne sich dessen bewusst zu sein, vermittelte sie mir dadurch, dass ich das mit dem Leben nicht alleine hinbekomme.
Also schrieb ich meinen Eltern damals einen Brief und bat sie, keinen Kontakt zu mir aufzunehmen, bis ich es wieder tue. Ich tat das in dem Wissen, wie schwer das vor allem für meine Mama sein würde. Doch sie akzeptiere meine Entscheidung und hatte mir auch vorher schon mehrmals versichert, dass ich tun solle, was ich für richtig hielt, um gesund werden zu können.
Die Mutter in meinem Kopf
An diesem Tag tat ich genau das. Ich tat es auch in dem Wissen, dass ich meine echte Mutter jetzt nicht mehr als Ausrede für irgendetwas benutzen konnte. Sondern es gab ab sofort nur noch „die Mutter in meinem Kopf“. Danach habe ich noch einige Male zu viel gegessen. Aber ich habe mich nie wieder bis an die Schmerzgrenze vollgestopft und gekotzt. Das hat sich auch nicht geändert, als ich meine Eltern nach einigen Monaten wieder gesehen habe.
Denn weil ich mich mit der „Mutter in meinem Kopf“, also mit dem Bild, was ich von ihr erschaffen hatte, auseinandersetzte, konnte ich meine Mama so sehen und annehmen, wie sie ist. Ich kann das bis heute, ganz ohne Vorwürfe. Ich sehe sie und ich verstehe sie zu jedem Zeitpunkt ihres Handels mir gegenüber. Sie hat es nicht immer gut gemacht, aber sie hat es immer gut gemeint.
Über diesen denkwürdigen Tag habe ich schon mehrfach berichtet. Und so richtig gerne erwähne ich ihn gar nicht mehr. Denn einige MindMates glauben, dass sie ebenfalls so einen “spektakulären” Aha-Moment brauchen. Doch ich kenne viele, bei denen sich die Essprobleme oder andere Kompensationsmethoden weniger dramatisch verabschiedet haben.
Eine MindMate hat es während unseres finalen Telefon-Mentorings vor Jahren ungefähr so formuliert:
Ich saß vor einigen Tagen auf einem Felsen im Meer. Ich war im Urlaub und es ging mir einfach nur gut. Und dabei ist mir plötzlich aufgefallen, dass ich schon seit Wochen keinen Rückfall mehr hatte und kaum noch über mein Gewicht oder das Essen nachdenke.
Als ich Jahre später noch mal meine Notizbücher von damals gelesen habe, ist mir genau das auch aufgefallen. Ich habe immer weniger über das Essen und über mein Gewicht geschrieben. Und irgendwann habe ich mal nebenbei erwähnt, dass ich gewichtstechnisch wieder da angekommen bin, wo alles anfing. Ja, körperlich begann und endete meine Essstörung mit demselben Gewicht.
Und letztlich bin ich auch auf eine andere Art im Kreis gelaufen. Denn ich habe mich irgendwann selbst verlassen und versucht, meinen inneren Mangel durch die Aufmerksamkeit und Anerkennung anderer zu stillen. Die Essstörung war der Preis dafür. Und dann habe ich mich selbst wieder gesucht und gefunden, denn ich war nicht mehr bereit, diesen Preis weiterhin zu zahlen. Doch was ich während dieses Kreislaufs erlebt habe, war enorm wertvoll und wichtig.
Jetzt habe ich also ausführlich über eine Situation geschrieben, über die ich nicht mehr schreiben wollte. Und doch tue ich es. Denn ich denke und schreibe heute ganz anders über diese Situation als im Selbsthilfeprogramm oder in meinem „Jubiläums-Post“. Und das zeigt die Vielschichtigkeit eines Erlebnisses und die möglichen Perspektiven, die wir zu unterschiedlichen Zeitpunkten einnehmen können.
Sitting in silence
Ich thronte also kürzlich und dachte über die Sprachnachrichten nach, die mir eine MindMate geschickt hatte. Auch sie hoffte auf ihren Aha-Moment und verglich ihre aktuellen Erkenntnisse mit dem, was ich damals erlebte. Denn auch ihr war bewusst, dass es ihr nicht wirklich neu war, was sie gerade auf eine andere Art zu begreifen begann. Sie sagte sinngemäß:
Das hast du mir schon öfters gesagt, deshalb ist es mir auch nicht neu und doch kann ich es jetzt anders begreifen.
So etwas habe ich schon oft von Mind Mates gehört und eben auch schon selbst erlebt. Ich wusste, was sie meinte. Und deshalb dachte ich darüber nach, ob es bei all dem eine Regel oder Formel gibt:
Wann genau passiert es und warum genau zu diesem Zeitpunkt?
Und dann hatte ich eine ganz andere Erkenntnis. Über 25 Jahre später habe ich etwas verstanden, was die ganze Zeit offensichtlich war. Bisher habe ich es meiner Mutter hoch angerechnet, dass sie den Kontaktabbruch damals akzeptiert hat.
Und das tue ich immer noch. Doch erst jetzt habe ich wirklich verstanden, dass sie das nur tun konnte, weil sie mir zugetraut hat, dass ich es alleine kann. Meine Mama hatte sich bereits von mir gelöst. Sie wusste, dass sie mich nicht gesund machen kann. Und sie war bereit auszuhalten, dass sie aktiv nichts (für mich) tun konnte.
Bis vor Kurzem habe ich geglaubt, dass ich mich lösen musste, weil sie es nicht konnte.
Dabei hat meine Mutter es bereits vor mir getan.
Vielleicht ist das für dich gerade keine große Sache, weil es logisch zu sein scheint.
Für mich ist es im Moment des Verstehens mindblowing gewesen. Auch wenn es – im Gegensatz zu damals – keine Konsequenzen im Sinne von „Ich verhalte mich jetzt deshalb aktiv anders“ hat.
Und als mir die interessante Rolle der Toiletten in meinem Leben bewusst geworden ist und ich darüber nachgedacht habe, ob es angemessen ist, so viel über Klos zu schreiben und wie man den Lokus noch so nennen kann, kam mir „das stille Örtchen“ in den Sinn.
Ja, es geht um den Raum, der durch die Stille und das Nichtstun entsteht. Auch das ist nicht wirklich etwas Neues. Ich kann es jetzt lediglich aus einem weiteren Blickwinkel betrachten. Doch welche Perspektive, wann und warum die entscheidende ist, kann man nicht in einer Formel wieder geben.
Es ist immer wieder das Erreichen des Punktes, an dem unsere innere Waage kippt und wir unser Selbst ausreichend genährt haben, sodass es stärker ist als das, was das (Gesellschafts- und Familien)System uns glauben gemacht hat.
Mind your (mental) digestion.
MindMuse Simone
P.S.: Vor einigen Jahren habe ich auf lebenshungrig diverse „Geschichten (d)einer Essstörung“ veröffentlicht. Das waren Geschichten, die Lebenshungrige mir geschickt haben. Sie alle sind nach wie vor hier zu finden.