Wie normal bist du?

Dr. Gabor Maté hat kürzlich ein Buch mit dem Titel  „The myth of normal“ (bisher nur in Englisch) (Affiliate-Link zu Amazon.de) veröffentlicht. Zwar habe ich das Buch noch nicht gelesen, aber ich kenne und schätze seine Arbeit schon lange. Und ich habe auf YouTube einige Interviews zum Buch gesehen.

Das Thema „Der Mythos normal“ empfinde ich als essentiell für die Frauen, mit denen ich arbeite – und das schließt mich selbst natürlich ein.

Denn alle Frauen, die im Laufe ihres Lebens Kompensationsmethoden wie Essstörungen als Überlebensstrategien entwickelt haben, halten sich immer wieder für falsch, für nicht genug, für nicht normal.

Doch was bedeutet „normal“ eigentlich?

Per Definition heißt es, „der Norm entsprechend“. Anders gesagt, sobald etwas auf die breite Masse zutrifft, bzw. von ihr anerkannt wird, ist es normal.

Bedeutet normal sein gesund sein?

Doch ist etwas, was wir als normal betrachten tatsächlich immer richtig, gut und gesund?

Wie so oft bin ich heute, an einem Sonntagmorgen, mit meinem Wasser, meinem Kaffee im Thermosbecher, meinem belegten Brötchen, einem Buch und einem Notizheft im Wald spazieren gegangen. Insgesamt war ich ungefähr 90 Minuten unterwegs und auf halber Strecke habe ich mich hingesetzt, gefrühstückt und etwas gelesen.

Und weil ich das heute getan habe, habe ich mich an einen Sonntagmorgen im vergangenen Sommer erinnert. Damals kam ich aus dem Wald und traf einen Bekannten. Er fragte mich, wo ich war und was ich gemacht habe. Als ich es ihm erzählte, fragte er scherzhaft: „Du wars alleine im Wald spazieren und hast dort gefrühstückt, hast du dich diesbezüglich schon mal untersuchen lassen?“

Wenn auch lustig verpackt, sagte er mir eigentlich:

Was du machst ist nicht normal.

Und das stimmt. Denn mein Verhalten entspricht nicht der Norm.

Doch gleichzeitig ist es das Gesündeste und Effizienteste, was ich tun kann: Ich verbringe Zeit mit mir alleine, bewege mich an der frischen Luft, lasse mich durch ein gutes Buch inspirieren und/oder drücke mich durch das Aufschreiben meiner Gedanken aus.

Sollte das nicht für uns alle normal sein?

Ist es aber nicht.

Wenn anormal sein gesund ist

Für meinen Körper ist diese regelmäßige, ausdauernde Bewegung enorm wichtig. Denn mein Körper ist nicht normal. Verursacht durch einen Gendefekt habe ich keine Flimmerhärchen auf meinen Schleimhäuten und dementsprechend keinen natürlichen Schutz meiner Atemwege. Außerdem liegen alle meine Organe spiegelverkehrt. Ja, ich habe das Herz nicht nur sprichwörtlich am rechten Fleck. Weitere Folgen sind, dass ich von Geburt an auf dem rechten Ohr schlecht höre, eine chronische Nasennebenhöhlenentzündung habe und im Alter von ungefähr 30 Jahren  meinen Geruchssinn komplett verloren habe.

Was diesen Gendefekt betrifft, würde ich gerne der Norm entsprechen, doch ich tue es nicht. Und das kann ich auch nicht ändern. Was ich aber tun kann, ist anders – unnormal? – damit umgehen. Durch regelmäßige Bewegung und Atemübungen sowie durch ausreichend Schlaf und Entspannung ersetze ich die Medikamente, von denen jeder Facharzt behauptet, dass ich sie brauche. Doch mein Lungenfunktionstest beweist das Gegenteil.

Und auch für meinen Kopf ist dieses Ritual enorm wichtig. Denn jegliche regelmäßige, ausdauernde, ruhige Tätigkeit die wir alleine ausführen, wirkt sich positiv auf unser (Nerven)System aus. Es aktiviert unseren Parasympathikus, wir fühlen uns entspannt und sicher. Das wiederum ist die Voraussetzung für wirkliches Denken.

Und mit wirklichem Denken meine ich neue, hilfreiche Gedanken, die in Gedankenpausen eigebettet sind.

Während meiner Spaziergänge habe ich mir schon häufig gewünscht, dass es einen Aufnahmeknopf in meinem Mind gäbe. Denn spätestes auf dem Rückweg kommen sie, die inspirierenden Gedanken, die frischen Ideen, die scheinbar aus dem Nichts auftauchenden „Downloads aus dem Universum“. Da es diesen Aufnahmeknopf nicht gibt, habe ich bereits mehrmals darüber nachgedacht, mir mein Handy umzuhängen und meine Gedanken laut auszusprechen um sie aufzunehmen. Doch stellen wir uns mal vor, ich wäre nicht mehr nur die, die alleine im Wald frühstückt, sondern auch noch die, die während des Gehens laute Selbstgespräche führt…

Wie unnormal wäre das denn?!?

Aber ist es das wirklich? Reden wir nicht alle permanent mit uns selbst – nur eben nicht laut? Und wer redet da eigentlich mit wem? Ist dir bewusst, dass es eine Rednerin und eine Zuhörerin geben muss? Und kannst du erkennen, dass dein Mind die Rednerin und du selbst die Zuhörerin bist? Ist es nährend und unterstützend, was du dir selbst permanent erzählst? Und glaubst du, was du hörst? Kannst du dich als die Denkerin deiner Gedanken wahrnehmen oder bist du so mit deinen Gedanken identifiziert, dass du sie für wahr hältst?

Für die meisten Menschen ist es normal, mit dem permanenten Strom ihrer Gedanken identifiziert zu sein, sie für absolut wahr, real und normal zu halten. Und genau das kann sehr ungesund sein. Vor allem dann, wenn die Gedanken überwiegend negativ sind.

Zu erkennen, dass ich die Denkerin meiner Gedanken bin und dass es von diesen Gedanken abhängt, wie ich mich selbst und die Welt sehe, ist also gesund aber nicht normal. Denn den meisten Menschen ist das nicht bewusst.

Ungesunde Systeme sind die Norm

Von meinem Klinikaufenthalt in 1997 ist mir eine bestimmte Aussage noch sehr präsent. Leider weiß ich nicht mehr, von wem sie ursprünglich stammt:

Ihr hier in der Klinik seid die kranken Gesunden.

Und die Normalen draußen sind die gesunden Kranken.

Anders gesagt: Psychosomatische Erkrankungen sind ein Hinweis auf ungesunde Familien und Gesellschaftssysteme. Und wer in einem ungesunden System krank wird, ist der eigentlich Gesunde. Nur ein wirklich Kranker kann sich in einem kranken System wohl fühlen.

Du bist nicht das Problem. Sondern du bist in einem problematischen Familiensystem aufgewachsen und unser Gesellschaftssystem besteht auf vielen problematischen Familiensystemen. Und genau das ist es, was dir Probleme macht: Du glaubst, einem ungesunden System gerecht werden zu müssen.

Dysfunktionale Systeme sind normal aber nicht gesund.

Wenn ungesunde Systeme normal sind, wie können wir dann gesund werden/sein?

Es ist sehr wichtig zu verstehen, dass wir aufhören müssen auf gesunde Systeme zu hoffen um gesund werden/sein zu können und um ein erfülltes, selbstbestimmtes Leben führen zu können. Denn das ist unrealistisch und es hält uns in der Abhängigkeit gefangen. Hoffen wir auf die Veränderung äußerer Systeme, bleiben wir ewige Opfer.

Was wir aber tun können ist, bewusst unnormal zu sein in dem wir uns selbst erlauben, mehr auf unsere eigenen körperlichen und mentalen Bedürfnisse als auf die Meinung anderer Menschen (Systeme) zu hören. Das innere Sein ist das Wesentliche und nicht der äußere Schein.

Viel wichtiger als die Frage: „Ist das normal?“ sind die Fragen:

Tut es mir gut?

Für wen und warum tue ich es (nicht)?

Welche Konsequenzen wird es (für mich) haben, wenn ich es (nicht) tue?

In dem wir Verantwortung für uns selbst übernehmen und gesund werden, machen wir sämtliche Systeme ein Stückchen gesünder.

Und je mehr Menschen das machen, desto größer ist die Chance, dass gesund sein irgendwann tatsächlich normal wird.

MIND your mental MEALS :)

MindMuse Simone

P.S.: Hier findest du das Interview von Tim Ferriss mit Gabor Maté.