Schwer zu (er)tragen

Wer hätte damit gerechnet, dass wir nach über zwei Jahren Pandemie jetzt auch noch mit einem Krieg in Europa konfrontiert werden?

Brauchen wir das um endlich mehrheitlich zu erkennen, wie ungesund und egoman unser kollektiver Hunger nach Ansehen und Aussehen tatsächlich ist? Müssen wir schmerzhaft lernen, dass Frieden, Freiheit und Unversehrtheit der Preis ist, den wir dafür zahlen?

Aus eigener Erfahrung weiß ich, wie ausdauernd wir Menschen egozentriert gegen die Realität kämpfen können. Ich war erst bereit sie zu akzeptieren, als ich ganz am Boden war. An meinem letzten bulimischen Tag saß ich völlig erschöpft und verzweifelt neben der Toilette auf dem Fußboden. Erst dort gestand ich mir ein, dass ich nichts und niemandem im Griff habe. Am allerwenigsten mich selbst.

Und in jeglicher Hinsicht am Boden liegend wurde ich demütig bereit, die Realität anzunehmen: Ich kann nicht erwarten, dass sich im Außen erst alles und alle ändern, bevor ich ganz ich selbst sein kann. Und ich kann meinen Körper nicht mit meinem Kopf kontrollieren. Denn je länger ich es versuche, desto höher wird der Preis den ich bezahle. Ich habe permanent Krieg mit mir selbst und mein Körper ist das Schlachtfeld, auf dem ich meine Kämpfe austrage. Und jeder weitere Kampf kostet mich (inneren) Frieden, (innere) Freiheit und meine körperliche, geistige und seelische Unversehrtheit.

Wie oft habe ich seit diesem Tag schon gedacht: Die Menschheit (und das schließt mich selbst ein!) ist ver-rückt:

Wir geben dem Unwichtigen zu viel Gewicht und dem Wichtigen zu wenig.

Ich wüsche mir so sehr, dass wir Verantwortung übernehmen und bei uns selbst beginnen, uns gerade zu rücken. Wir brauchen Gleichgewicht und Ausgleich, mental wie global. Und ich möchte daran glauben, dass das passieren wird.

Doch in diesen Tagen fällt es mir schwer. Ich bin schwer. Meine Gedanken sind schwer und meine Emotionen sind es auch. Obwohl äußerlich nach wie vor in einer privilegierten und sicheren Situation, trage ich gefühlt gerade die Last der Welt.

Allerdings schenken mir diese Enge und dieser Druck noch mal ein tieferes Verständnis für mein früheres, essgestörtes Ich. Damals konnte ich diesem Gewicht – das zwar durch andere Dinge erzeugt wurde, aber nicht weniger schwer schien – nur Essen und (kurzfristiges) Vergessen entgegensetzen. Und der einzige Druckabbau mit dem ich mir (kurzfristig) helfen konnte, war der, über der Toilettenschüssel. Doch genau diese Art der Kompensation hat langfristig mehr Druck, Enge und Schwere in jeglicher Hinsicht erzeugt und meine Abwärtsspirale genährt.

Heute kann ich anders damit umgehen. Ich kann die Schwere (er)tragen. Und ich habe Verständnis für sie, für mich selbst. Und weil es schon schwer genug ist, muss ich es (mir) nicht noch schwerer machen. Deshalb tue ich mehr von diesen Dingen, mit denen ich mir tagtäglich Leichtigkeit verschaffe: In der Natur sein, tanzen und singen, malen und schreiben, Yoga und Meditation, schreien und heulen, in den Austausch mit mir wichtigen Menschen gehen.

Anstatt zu unterdrücken was da ist, drücke ich mich verbal, kreativ und körperlich aus.

Ich versuche noch mehr für mich selbst da zu sein um auch für andere Menschen da sein zu können. Und ich versuche, den Frieden und die Freiheit in mir selbst zu erhalten um beides auch im Außen zu nähren. Außerdem erinnere ich mich daran, dass ich mich sehr hilflos fühle, aber nicht komplett hilflos bin. Deshalb habe ich durch eine finanzielle Spende an das WorldFoodProgramme dafür gesorgt, dass andere Menschen ernährt werden. Etwas kann ich tun. Immer.

Und ich bin nicht bereit, die Hoffnung aufzugeben. 

Denn auch das hat mich die Essstörung gelehrt. Besonders in meinem letzten Achterbahn-Jahr gab es einige Momente, in denen ich selbst nicht mehr an meine Genesung geglaubt habe. Doch die Hoffnung kam immer wieder zurück. 

Und letztlich haben der Frieden und die Freiheit gesiegt.