Warum kreativer Ausdruck
für mich Nervennahrung ist
Zwar bin ich heutzutage viel weniger und seltener unter Druck als früher, aber ab und an passiert es noch. Da gibt es Enge und Anspannung im Brustraum, hochgezogene Schultern, und wenn es richtig heftig wird, halte ich sogar den Atem an. All das sind Botschaften unseres autonomen Nervensystems. Es lässt uns so wissen, dass wir uns unsicher und/oder bedroht fühlen.
Unser Nervensystem ist eine Art Frühwarnsystem. Permanent scannt es mithilfe unserer Sinne und Sensoren unsere Umgebung. Wir riechen, sehen, spüren, hören oder schmecken etwas und unser Nervensystem ordnet das Gehörte, Gesehene, Gespürte, Gerochene oder auch Gedachte in “gefährlich” oder “ungefährlich” ein.
Doch um aktuelle Erfahrungen einzuordnen, kann unser Nervensystem nur auf vergangene Erfahrungen zurückgreifen. Es funktioniert quasi wie eine KI. Denn es ist schnell, effizient und lernfähig, kann aber nur auf das zurückgreifen, was ihm in der Vergangenheit zur Verfügung gestellt wurde.
Unsicherheit und Gefahr
Hat beispielsweise eine MindMate einen Vater gehabt, der zu Gewaltausbrüchen neigte, die sich meistens durch laute Wortgefechte angekündigt haben, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass das Nervensystem dieser MindMate laute Männerstimmen als “gefährlich” einstuft. Während eine MindMate, die diese Erfahrung in ihrer Kindheit nicht gemacht hat, laute Männerstimmen lediglich als “lästig aber ungefährlich” einsortiert.
Vereinfacht und zusammengefasst ist es also so, dass wir heute schneller und leichter durch etwas verunsichert werden, wenn es in unserer Kindheit/Vergangenheit diverse Situationen gab, die wir als bedrohlich und unsicher erlebt haben, aus denen wir uns aber nicht aus eigener Kraft befreien konnten. Wir mussten diese Erlebnisse ertragen.
Und das lag nicht daran, dass uns die Kraft oder der Mut zur Gegenwehr fehlten, sondern daran, dass sich ein kleines Mädchen nicht mit seinem großen, starken, mächtigen und wütenden Vater anlegt. Denn es hätte keine Chance gegen ihn.
Mehrere Updates für ein Upgrade
Da unser Nervensystem autonom ist, können wir es nicht einfach ab- oder umstellen indem wir mit unserem Verstand erkennen:
Früher konnte ich nicht raus aus diesen Situationen, heute kann ich es.
Diese Erkenntnis ist sehr wichtig, und es hilft durchaus, uns das immer wieder ins Bewusstsein zu rufen. Aber eben nicht in akuten Situationen.
Vielleicht hast du schon erlebt, dass sich so viel Druck in dir aufgebaut hat und du dir nur noch mit einem Rückfall in Kompensationsmethoden, wie beispielsweise Essstörungen, zu helfen weißt. Und obwohl dir bewusst ist, dass der Rückfall keine wirkliche Lösung ist, sondern deine (Ess)Probleme langfristig größer macht, kannst du den Rückfall nicht verhindern. Das liegt nicht an deinem Mangel an Willenskraft oder an deiner Unfähigkeit, dein Verhalten zu ändern.
Kompensation ist Druckabbau
Es liegt daran, dass sich in dir zu viel Druck aufgebaut und angestaut hat. Druck entsteht einerseits durch die Unterdrückung deines wahren Selbst, deiner Persönlichkeit, indem du nicht ausreichend auf deine Grenzen und Bedürfnisse achtest.
Und andererseits ist dieser Druck eine Art angesammelte Energie in dir, die dein Körper zum Kämpfen oder Weglaufen zur Verfügung gestellt hat. Denn das ist seine natürliche Reaktion, wenn das Nervensystem “Gefahr und Unsicherheit” meldet. Es ist unser Überlebensinstinkt.
Doch weil wir meistens nicht physisch (re)agieren (müssen), also tatsächlich weglaufen oder kämpfen, bleibt die zur Verfügung gestellte Energie quasi in uns stecken. Deshalb ist es auch so hilfreich, wenn wir uns regelmäßig moderat bewegen und beispielsweise spazieren gehen. Das ist einer der Gründe, warum ich so gut wie jeden Tag alleine in die Natur gehe. Es entspannt meinen Körper und das hilft wiederum, meinen Kopf zu entspannen.
Unsere Re-Aktion ist (neurobio)logisch
Haben wir unsere Kindheit also als relativ unsicher erlebt, ist es (neurobio)logisch, dass wir leicht und schnell Druck aufbauen. Und das ist nicht unsere Schuld. Es ist lediglich der Versuch unseres Körpers, uns vor möglichen Gefahren zu warnen, um unser Überleben zu sichern.
Neben dem körperlichen Ausdruck, der moderaten Bewegung, ist der kreative Ausdruck für mich enorm hilfreich. Und er hat ganz entscheidend dazu beigetragen, dass ich sämtliche Abhängigkeiten hinter mir lassen konnte.
Kreativer Ausdruck beinhaltet häufig ruhige, sich wiederholende Bewegungen bzw. Tätigkeiten. Wenn ich schreibe, bewege ich den Stift über das Papier oder die Hände über die Tastatur.
Häkele ich, erzeuge ich durch wiederholende Bewegungen viele gleiche Maschenkombinationen, die in der Summe ein neues Muster ergeben.
All das beruhigt unser Nervensystem, hilft uns zu entspannen und kann auch noch Spaß machen. Vor allem dann, wenn wir keine großen Erwartungshaltungen an das Ergebnis haben.
Selbstbestimmt vs. Systembestimmt
Ich weiß nicht, was ich ausprobieren könnte, und wenn ich versuche zu schreiben, fällt mir nichts ein oder es ist immer wieder derselbe Mist.
Sätze wie diesen – oder Teile davon – habe ich schon unzählige Male von MindMates gehört. Und was sagen sie eigentlich aus?
Wenn du nicht weißt, was du ausprobieren könntest, dann heißt das wahrscheinlich, dass du sehr viel Unsicherheit und Unterdrückung durchlebt hast. Und/oder es heißt, dass du viele “Zensoren” in deinem Kopf hast, die dir sagen, dass das Unsinn oder Zeitverschwendung ist, und/oder, dass wenn du dich schon kreativ ausprobierst, du gefälligst auch ein perfektes Ergebnis zu liefern hast. Und ja, es ist immer wieder derselbe Mist. Doch ist der nicht besser in zigfacher Ausfertigung auf Papier als in deinem Kopf aufgehoben?
Leeres Blatt bei vollem Kopf?
Eine MindMate sagte beispielsweise mal zu mir, dass sie – wenn sie vor einem leeren Blatt sitzt – nicht einfach losschreiben kann, sondern dass ihr Mind sie wissen lässt, dass sie unbedingt “das Richtige” aufzuschreiben hat. Und wenn dann auch noch verlangt wird, dass “das Richtige” richtig ordentlich und grammatikalisch korrekt zu sein hat, kann einem natürlich die Lust vergehen und der Frust kommt.
Doch alle MindMates, die ich bisher kennengelernt habe, sind “Vieldenkerinnen”, in ihrem Kopf ist ständig etwas los. Es ist also ausreichend Material zum schriftlichen Auskotzen vorhanden. Und diese Form der “mentalen Zensur” zeigt ja lediglich, dass da gerade irgendjemand anderes, aus irgendeinem System, dem wir ausgesetzt waren, das Sagen hat.
Vielleicht regiert gerade das Familiensystem in Form deiner Mutter in deinem Mind, der es immer sehr wichtig gewesen ist, dass du dich “richtig” (was auch immer richtig ist) ausdrückst. Oder es hat gerade das Bildungssystem in Form deines Deutschlehrers, Herrn Dr. Schießmichtot den du in der sechsten Klasse vorgesetzt bekamst, das Sagen. Dieser hat dich häufig wissen lassen, wie enorm wichtig grammatikalische Korrektheit ist und dass du dir diesbezüglich mehr Mühe geben solltest.
Beide Beispiele stehen für den Anspruch des Systems an dich, “richtig” (Wunschbild) zu sein, während sie dir gleichzeitig vermittelt haben, dass du “falsch” (Selbstbild) bist.
Etwas richtig schön falsch machen
Was ich damit zu sagen versuche, ist, dass wir die Systeme, denen wir ausgesetzt waren und die unseren Mind regelrecht infiltriert haben, sehen und in ihrer Funktionsweise verstehen müssen, um uns davon befreien zu können. Um wirklich zu verinnerlichen:
Wow, meine Mutter und Herr Dr. Schießmichtot haben es sich in meinem Mind gemütlich gemacht, doch ich muss deren Erwartungen nicht mehr entsprechen und ich kann sie häppchenweise herauswerfen. Großartig, vielleicht schreibe ich erstmal einen total “falschen” weil frechen Bericht über meine Erlebnisse mit Herrn Dr. Schießmichtot und achte dabei auf ausreichend grammatikalische Fehler.
Und spätestens an diesem Punkt wird das kreative bzw. freie Schreiben wirklich (ent)spannend und möglicherweise sogar lustig. Denn es geht viel weniger um den Inhalt als um den Prozess des Erlaubens, Experimentierens und Erkennens. Es geht um mentale und emotionale Unabhängigkeit und Freiheit.
Durch solche scheinbar banalen Tätigkeiten können wir immer besser zwischen “das bin ich selbst” und “das ist das System in mir” unterscheiden. Und je besser wir unterscheiden können, desto freier können wir auch entscheiden.
Mind the re-action.
MindMuse Simone
für mich Nervennahrung ist





