Gefühle: Können wir ihnen vertrauen?

Ist es dir auch schon mal passiert, dass du Gefühle wahrgenommen hast, dir aber nicht erklären konntest, warum sie da sind? Warst du beispielsweise mal in einer Situation, in der du dich sehr unwohl gefühlt hast, dir aber nicht erklären konntest, warum du dich nicht wohlfühlst?

Vielleicht hast du auch schon mal versucht, Gefühle mit deinem Verstand zu verändern, indem du dir innerlich verärgert gesagt hast: „Hier ist alles okay, es gibt keinen Grund, sich unwohl zu fühlen?“ Doch das hat nicht so richtig funktioniert.

Und hast du deshalb vielleicht nicht das beste Verhältnis zu deinen Gefühlen, weil sie dir scheinbar oft im Weg stehen?

Was sind Gefühle eigentlich?

Betrachten wir Gefühle mal rein sachlich bzw. wissenschaftlich, dann sind Gefühle psychische Reaktionen, die durch bestimmte Reize ausgelöst werden, welche unser Körper ganz individuell verarbeitet.

Hierbei spielt unser Nervensystem eine große Rolle. Es ist gewissermaßen das Erfahrungsgedächtnis unseres Körpers. Ausgelöst durch äußere Erlebnisse (Reize), wie beispielsweise eine bestimmte Stimme oder Stimmung, Gerüche, Gespräche oder auch Gedanken, Bilder oder Geräusche, ordnet unser Nervensystem permanent die Situationen ein, in denen wir uns befinden.

Das tut es in Bruchteilen von Sekunden und völlig autonom, also nicht von unserem Verstand bewusst steuerbar. Vereinfacht gesagt ordnet unser Nervensystem die Situation in unsicher = Stress oder sicher = Entspannung ein.

Entscheidend dabei ist, dass unser (Nerven)System dabei auf vergangene Erfahrungen zurückgreift und dementsprechend reagiert.

Alte, negative Erlebnisse – neue, stressige Gefühle

Konkret bedeutet das also, dass du in einer aktuellen Situation unangenehme Gefühle haben kannst, weil du früher in einer ähnlichen Situation negative Erfahrungen gemacht hast. Dein Nervensystem ist also eine Art inneres Frühwarnsystem, das mehrere Updates benötigt, um upgraden zu können. Anders gesagt: Wir brauchen mehrere, bessere Erlebnisse in ähnlichen Situationen, um automatisch positiver bzw. entspannter reagieren zu können.

Besonders herausfordernd sind deshalb die Gefühle, die im Umgang mit unserer Ursprungsfamilie entstehen. Denn mit diesen Menschen hat unser (Nerven)System eine Menge Erfahrungswerte gespeichert. Und deshalb verhalten wir uns als Erwachsene (unbewusst) unseren Eltern gegenüber oftmals noch immer so, wie wir es als Kinder mussten, um in diesem Familiensystem zu (über)leben.

Die Gefühle Schmerz und Angst

Haben wir in unserer Kindheit viele psychische und/oder physische Verletzungen erlebt, uns häufig ungeliebt und unverstanden gefühlt, oftmals Angst gehabt, sind wir traumatisiert. Das Wort Trauma stammt aus dem Griechischen und bedeutet „Wunde“.  Ein Trauma ist ein Erlebnis, das wir zwar überlebt, in dem wir uns aber völlig hilflos, überfordert und ausgeliefert gefühlt haben. Und vor solchen Situationen möchte unser (Nerven)System uns schützen, indem es uns warnt.

Unser (Nerven)System „sagt“ uns dann quasi: Achtung, du musst kampfbereit sein, Achtung, du musst lauf bereit sein, oder Achtung du hast keine Chance, stell dich tot oder ordne dich sofort unter! Im Englischen nennt man das „Fight-Flight-Freeze-Fawn“ response.

Entsprechend dieser „Ansage“ steht ein Großteil unserer Energie dadurch unserem Körper zur Verfügung und bleibt dort regelrecht stecken, weil wir meist nicht körperlich (re)agieren. Denn unser sogenannter Verstand hindert uns in der Regel daran, der Warnung des (Nerven)Systems körperlich zu folgen.

Vereinfacht gesagt: Je negativer und abhängiger vom (Familien)System, wir unsere Kindheit/Vergangenheit erlebt haben, desto häufiger haben wir stressige Gefühle. Denn unser körperliches Erfahrungsgedächtnis schlägt häufiger Alarm.

Das Drama des braven, fleißigen Mädchens

Nehmen wir mal das Beispiel des braven, fleißigen Mädchens und nennen es Ella. Ella ist Ende dreißig und lebt mit ihrer Familie im eigenen Haus. In der Einliegerwohnung dieses Hauses wohnt Ellas Mutter. Ella ist essgestört und auf ihrem Genesungsweg.

Ella hat verstanden, dass es entscheidend für sie ist, öfter mal eine Pause zu machen und zu entspannen. Doch das kennt sie aus ihrer Ursprungsfamilie nicht. Dort gab es gefühlt immer nur Arbeit und Pflicht. Menschen, die sich anders verhielten, wurden abschätzig als Faulenzer bezeichnet. Deshalb fühlt sich Ella häufig hin- und hergerissen.

Wenn sie sich nach der Arbeit mal auf die Terrasse setzt, kann Ella das nicht so wirklich genießen und dabei entspannen. Denn Ellas Mutter könnte ja sehen, dass ihre Tochter „faulenzt“. Sobald Ella es sich gemütlich macht, springt quasi ihr körperliches Erfahrungsgedächtnis an und „sagt“ ihr: „Los, steh auf, sie darf dich nicht sehen! Tu was, du musst brav und fleißig sein, sonst mag sie dich nicht. Und sie muss dich mögen, du brauchst sie, um zu überleben. Los, Faulenzer akzeptieren wir nicht, steh schon auf!“

Und während die Gefühle und Körperempfindungen Ella zum Aufstehen nötigen, sagt ihr bewusster Verstand: „Aber ich sollte und will mich entspannen, deshalb sitze ich doch hier. Warum funktioniert das nicht? Ich habe doch schon so oft erlebt, dass ich kompensiere und Rückfälle in die Essstörung habe, wenn ich mir keinerlei Pausen gönne. Mache ich etwas falsch? Bin ich falsch? Das ist doch wieder typisch, dass ich das nicht hinbekomme …“

Fight, Flight,Freeze und/oder Fawn

Deshalb wünscht sich Ella öfters, nicht mit ihrer Mutter in einem Haus zu wohnen (flight) und gleichzeitig hat sie ein schlechtes Gewissen deswegen. Häufig lässt Ella in anderen Situationen ihren Frust an der Mutter aus (fight) und fühlt sich später deshalb schuldig. Und es gibt Zeiten, in denen sich Ella quasi vor ihrer Mutter im Haus versteckt und sich ganz ruhig verhält (freeze), damit die Mutter nicht weiß, ob sie zu Hause ist.

Und um den unangenehmen Gedanken, Gefühlen und Körperempfindungen während des Entspannungsversuchs auf der Terasse zu entkommen, steht Ella meist nach drei Minuten frustriert auf und stürzt sich in Hausarbeit (fawn), wofür sie sich gleichzeitig verurteilt.

Gefühle fühlen, Gedanken wahrnehmen

Wie kann Ella diesem Dilemma entkommen?

Sobald Ella die Funktionsweise ihres körperlichen Erfahrungsgedächtnisses erkennt, kann sie verstehen, warum sie sich in dieser scheinbar unlogischen Situation befindet. Sie kann sich bewusst machen, dass sie automatisch noch immer wie das kleine Mädchen reagiert, das brav und fleißig sein muss, um im Familiensystem einen Platz zu haben.

Wahrscheinlich ist sie dann sogar in der Lage, die unangenehmen Gefühle und Körperempfindungen, wie beispielsweise Druck, Unruhe, Herzrasen, etc. wahrzunehmen und zu benennen.

Körper vor Kopf

Ella weiß, dass ihr (Nerven)System automatisch reagiert und deshalb nicht direkt zu beeinflussen ist. Doch sie weiß auch, dass es eine Ausnahme gibt. Und das ist unser Atmungssystem. Wir können unsere Atmung bewusst steuern und dadurch unser (Nerven)System positiv beeinflussen. Deshalb nimmt Ella als erstes einige tiefe und ruhige Atemzüge, bei denen sie darauf achtet, dass sie länger aus- als einatmet.

Und wenn sie zuvor beispielsweise Enge und Druck in ihrem Brustraum wahrgenommen hat, kann sie diesen öffnen, indem sie ihre Schulterblätter nach unten und hinten zieht.

Weiterhin kann sie sich vorstellen, dass sie ihren Atem direkt in ihren Brustraum lenkt und auch von dort wieder ausatmet. Diese Form der Visualisierung gibt Ellas Kopf eine zusätzliche Aufgabe. Und je mehr sie sich auf das bewusste Atmen fokussiert, desto weniger ist ihr Verstand in der Lage, sich in die Abwärtsspirale der „altbekannten Gedanken“ zu begeben.

Mithilfe dieser körperlichen Entspannung kann Ella sich anschließend leichter dafür entscheiden, trotz der eher negativen Gefühle und Körperempfindungen mindestens 15 Minuten auf der Terrasse sitzenzubleiben. Denn sie wird sich etwas ruhiger, sicherer und gelassener fühlen.

Durch den bewussten Einsatz ihres Körpers wechseln die Gefühle nicht unmittelbar von negativ zu positiv. Sondern vielleicht von negativ zu neutral. Und bei jeder weiteren, ähnlichen Erfahrung werden die Gefühle von Mal zu Mal positiver. Denn das Erfahrungsgedächtnis macht in altbekannten Situationen bessere Erfahrungen. Dementsprechend schätzt es die Situation mit der Zeit als immer sicherer ein und kann entspannter reagieren.

Gefühle

Bevor Ella wirklich frei entscheiden kann, ob sie auf der Terrasse entspannen will oder nicht, muss sie die im Körper „feststeckenden Stressreaktionen“ über den Körper abbauen. Körperliche Ruhe und Entspannung sind übrigens aus einem weiteren Grund entscheidend. Neurowissenschaftler wie Andrew Huberman sagen, dass beispielsweise Schlaf und meditative Zustände die notwendigen Veränderungsprozesse im Gehirn beschleunigen.

Verständnisvolle, innere Dialoge schaffen langfristig bessere Gefühle.

Sobald Ella sich etwas entspannter fühlt, kann sie bewusst die Stimme der Wohlwollenden aktivieren und sich sagen: „Aufgrund meiner Vergangenheit ist es logisch, dass ich mich hier nicht sofort entspannt und gut fühle. Doch ich bleibe noch eine Weile sitzen, um mir erlebbar machen zu können, dass nichts Schlimmes passiert. Selbst wenn meine Mutter mich hier sieht und mich als Faulenzer bezeichnet, passiert nichts.

Denn im Gegensatz zu früher bin ich nicht mehr von ihrem Wohlwollen abhängig. Sie muss mich und mein Verhalten nicht verstehen und gutheißen, ich muss das. Denn nur ich selbst kenne den Preis, den ich ansonsten dafür bezahle.

Und ich bin das Leiden leid. Ich möchte mir erlebbar machen, dass es okay ist, Bedürfnisse und Grenzen zu haben. Und ich möchte immer besser darin werden, meine Grenzen einzuhalten und meine Bedürfnisse zu befriedigen.

Außerdem würde ich gerne anerkennen können, dass ich sehr oft wirklich fleißig bin und viel leisten kann. Und mit kleineren Pausen und bewusster Entspannung, die ich auch genießen kann, fällt mir das Arbeiten bestimmt auch noch leichter.“

Ella kann diese Ansprache der Wohlwollenden auch schriftlich festhalten. Das gibt ihr einerseits etwas zu tun, während sie auf der Terrasse sitzt und ist andererseits effektiver und jederzeit nachlesbar. Denn es fällt uns leichter etwas zu verinnerlichen, wenn wir uns öfter daran erinnern.

Magst du deine Gefühle schriftlich in einem „Nurture Note“ festhalten?

Stellvertreter der Ursprungsfamilie

Es muss übrigens gar nicht die Vorstellung sein, dass die eigene Mutter vorbeikommen könnte, die diese Gefühle und Reaktionen auslöst. Das kann auch die Nachbarin, eine Freundin oder sonst wer sein, der theoretisch sehen könnte, was wir gerade tun oder eben nicht tun.

Von vielen MindMates – und auch von meinem früheren Ich – weiß ich, dass es unzählige solche Stellvertreter geben kann. „Was sollen denn die Nachbarn denken, wenn ich hier faul auf der Terrasse sitze?“

Nun, die Nachbarn denken, was sie denken. Und das können wir weder beeinflussen noch hat es etwas mit uns zu tun. Sondern es hat lediglich etwas damit zu tun, in welche Art von System der Nachbar aufgewachsen ist. Möglicherweise hält er uns tatsächlich für einen Faulenzer, möglicherweise freut er sich für uns, dass wir scheinbar eine gute Zeit haben.

Gefühlt dreht sich die Welt um uns.

Oder – man mag es kaum glauben – er denkt überhaupt nicht über uns und über das, was wir da gerade tun, nach. Und das ist ein weiter, wichtiger Punkt. Wenn wir in diesem „alten Film“ gefangen sind und in kindliches Denken und Verhalten zurückfallen, sind wir so Ego-zentriert, wie eine Siebenjährige.

Wir gehen dann davon aus, dass alles in einem direkten Zusammenhang zu uns steht. In diesem Zustand scheint es uns unmöglich, dass es dem Nachbarn egal sein könnte, was wir tun. Denn in unserer kindischen Welt dreht sich alles um uns.

Deshalb ist es nicht die Anwesenheit des Nachbarn an sich, sondern das, was wir aufgrund unserer Vergangenheit in das Denken unserer Nachbarn hinein interpretieren und was scheinbar negative Auswirkungen auf uns haben könnte, was negative Gefühle in uns auslösen kann.

Gefühle nicht verdrängen, sondern verstehen.

Wenn wir unsere Gefühle wahrnehmen und sie verstehen, können wir ihnen auch vertrauen. Denn Gefühle lügen nicht. Sie sind nur nicht immer auf dem Laufenden. Und das Verdrängen unserer Gefühle führt dazu, dass sie sich immer mehr in uns aufstauen, immer größer und mächtiger werden, wie ein Topf auf einer zu heißen Herdplatte, der irgendwann überkochen wird.

Feeling is healing. Und unser bester Verbündeter ist dabei derjenige, den wir häufig zu unserem Feind auserkoren haben: unser Körper.

Solltest du dich über bewusstes Atmen nicht beruhigen können, dann werde zunächst noch körperlicher und schüttele dich kräftig aus. Je intensiver die Gefühle, desto körperlicher sollte deine erste ReAktion sein.

Durch die SELF SESSIONS meines SelbstErlebnisKurses lernst du konkrete Möglichkeiten kennen, wie du dir über deinen Körper helfen, deine Gefühle beeinflussen und dir bessere Geschichten erzählen kannst:

Falls du deine Gefühle als regelrecht überwältigend wahrnimmst, kann das auf schwerwiegende Verletzungen in deinem früheren ErLeben hinweisen. Ist das der Fall, lass dich bitte unbedingt professionell von einer Psychologin und/oder Psychiaterin unterstützen und begleiten.

Mind your feelings.

MindMuse Simone