Die siebenundsiebzigste Geschichte (d)einer Essstörung

Eine weitere mutige Frau, die ihre Geschichte mit uns teilt:

Ich bin jetzt 19 Jahre alt und habe vor fast 6 Jahren eine ernste Diät angefangen. Auch vorher hab ich mich schon unwohl in meiner Haut gefühlt und hatte abwechselnd Binge Eating Anfälle, aber manchmal auch lange Hungerphasen. Die Fressanfälle sind aus Frust immer häufiger geworden, sodass ich mich zunehmend unwohl gefühlt habe. Also habe ich mir selbst einen Schlussstrich gesetzt, besonders nachdem ich gesehen habe, wie viel meine ehemalige langjährige beste Freundin abgenommen hat. Wir haben sozusagen beschlossen zusammen abzunehmen, woraus damals unbewusst ein Konkurrenzkampf wurde.

Ich wollte immer dünner und somit scheinbar besser sein als sie. Ich dachte immer ich wäre die einzige von uns beiden die so denkt, aber das war ich scheinbar nicht. Wir sind in einen echten Teufelskreislauf geraten bis ich bei einer Größe von 170 cm irgendwann nur noch XX kg gewogen habe. Im Gegensatz zu den Eltern meiner Freundin haben meine Eltern die Notbremse gezogen und mich in eine Klinik gesteckt, weil ich sonst an den Folgen von Unterernährung gestorben wäre. Gefühlt war das der schlimmste Tag meines Lebens, da ich aus der Schule und meinem normalen Alltag gerissen worden bin. Ich war damals erst 14, Schülerin eines Gymnasiums und schon immer extrem perfektionistisch, was auch der eigentliche Grund für meine Anorexie und mein Streben danach besser, schöner, schlanker als meine beste Freundin zu sein war.

Zunächst landete ich für eine Woche in einer geschlossenen Klinik. Da ich nicht bereit war Trinknahrung zu mir zu nehmen, da ich generell nicht gesund werden wollte, wurde mir quasi beim Verhungern zugesehen. Ich nahm weiterhin ab und schließlich wurde ich nach einer Woche in eine offene Klinik verlegt, wo mir zwar strikte Regel vorgesetzt wurden, jedoch handelte es sich um eine DBT-A Klinik für Jugendliche. Wichtig zu wissen ist, dass DBT insbesondere bei Borderlinepatienten hilfreich ist. Deshalb habe ich dort 10 unnötige Monate verbracht ohne viel Veränderung. Ich habe lediglich 3-4 kg zugenommen und war hinterher insgesamt in einer schlechteren Verfassung als vorher. Ich wurde schließlich auf eigenen Wunsch entlassen.

Aufgrund der langen Fehlzeit war es mir unmöglich in der Klinik alles schulische aufzunehmen, da wir dort nur täglich ca. 1 Stunde Schule hatte. Also musste ich die 9. Klasse sozusagen mehr oder weniger freiwillig wiederholen. In meiner Klasse fühlte ich mich überhaupt nicht wohl und integriert und deshalb habe ich schließlich darauf bestanden in die Parallelklasse zu wechseln. In dieser Klasse war dann auch meine beste Freundin mit der ich während der Zeit in der Klinik gar keinen Kontakt mehr hatte, weil sie sich überhaupt nicht gemeldet hat. Ich hab gesehen, dass sie angefangen hat an Gewicht zuzunehmen und damit ging es mir richtig gut.

Es hört sich jetzt vielleicht gemein an, aber das hat mein Ego gestärkt. Sie hat mich sozusagen dazu angestachelt auch zuzunehmen. Da ich mich sowieso schon immer danach gerichtet habe, was sie tut, fiel mir das auch leicht. Ich hab also zugenommen, wog dann irgendwann XX kg. Mir ging es das erste mal seit langen mal wieder richtig gut! Leider hielt diese Phase nur für wenige Monate, ca. ein halbes Jahr, an. Der Grund dafür war, dass ich im Mexikourlaub weitere 2 kg zugenommen hatte und somit mit Wunsch/-Zielgewicht überschritt. Es war einfach zu viel auf einmal. 2 kg innerhalb von 2 Wochen war happig.

Zeitgleich hatte meine Freundin sich wieder runtergehungert, was mir natürlich auch zu schaffen gemacht hat. Also hab ich ab diesen Zeitpunkt angefangen weniger zu essen, um die 2 kg wieder los zu werden. Zwar hab ich es vermieden mich ab diesem Zeitpunkt zu wiegen, weil der Schock über die zusätzlichen 2 kg zu groß war. Alle Versuche mich wieder runterzuhungern scheiterten. Ich aß nur noch zweimal am Tag irgendwann nur noch einmal und etwas Obst, blieb dennoch im Normalgewicht, da mein Stoffwechsel extrem geschädigt war. Das frustrierte mich natürlich extrem, insbesondere weil meine Freundin immer weiter abnahm bis sie wieder im Untergewicht war, was sie bis heute ist.

Ich hingegen hab mein Gewicht bis vor etwas 8 Monaten gehalten (laut Augenmaß da ich mich ja nicht gewogen hab, aber wer weiß, ob das stimmt wegen der falschen Selbstwahrnehmung und so weiter). Ich aß also genauso viel wie sie und war dennoch das Doppelte. Ich fühlte mich schlichtweg ungerecht behandelt. Generell war sie immer “die Bessere”, “die Schönere”, “die Zerbrechlichere”, “die Stillere”… alles was ich anstrebte. Sie wurde quasi ein Idealbild für mich und das Vergleichen wurde eine Sucht. Der Kontakt zu ihr wurde immer schwieriger, da sie seit dem Mexikourlaub mittlerweile einen Freund hatte, der seit 2 Jahren auch bei ihr wohnt. Sie hatte also von da an keine Zeit mehr für mich, grenzte sich immer mehr an und redete nicht mehr viel, auch nicht mit mir als ihre beste Freundin!

Ich hatte das Gefühl nur noch gut zu sein, wenn sie was brauchte. Davon hatte ich die Nase voll und hab es seit ca. 8 Monaten geschafft mich von ihr abzugrenzen. Ich bin stolz auf mich, dass ich das geschafft habe! Zwar vergleiche ich mich immer noch häufig, aber ich gehe ihr aus dem Weg. Das ist ein Ziel, das ich versucht habe jahrelang zu erreichen. Leider bin ich immer gescheitert. Zu dieser Zeit fing es an uns schlechter zu gehen, weil wir nun in der 12. Klasse waren und beide zunehmend gestresst waren. Deshalb fing ich auch an nichts mehr zu essen. Radikaler denn je!

Ich nahm also innerhalb weniger Monate wieder fast alles ab. XX kg wog ich im Endeffekt nur noch, bis meine Eltern, mein Freund und auch meine Lehrer ernst wurden. Meine Rektorin und ein paar Lehrer machten mir Angst, dass ich so mein Abitur nicht schreiben könnte. Also bemühte ich mich, mein Gewicht zu halten. Mittlerweile hab ich mich in einer Spezialklinik beworben, wo ich auch bald hingehen werde, um vor allem meine Gedanken und die Depression in den Griff zu kriegen, die ich in letzter Zeit erlitten habe. Mein Freund war es letztendlich, der mir so viel Druck gemacht hat, die ganze Sache jetzt in den Griff zu kriegen und selbst was zu ändern! Hier und jetzt! Denn je früher, desto besser. Und das Wertvollste was ich habe zu verlieren, will ich nicht riskieren. Vorher war ich wirklich unentschieden, ob ich das mit der Klinik wirklich durchziehen soll, aber jetzt bin ich entschlossen dazu! Klar wird es schwer, aber ich gehe die Sache mit viel Optimismus an und kämpfe!

Das kann jede Essgestörte schaffen! Glaub an dich!

Wo findest du dich in dieser Geschichte wieder und was nimmst du daraus mit?

Das Aufschreiben und Veröffentlichen deiner eigenen Geschichte hilft dir und anderen!

Schicke mir die Geschichte deiner Essstörung an info@lebenshungrig.de, ich veröffentliche sie anonym.

lebenshungrige Grüße

Simone