Die achtundsiebzigste Geschichte (d)einer Essstörung

Eine weitere mutige Frau, die ihre Geschichte mit uns teilt:

Warum Ich diese Geschichte preisgebe?

Ich habe seit 3 Jahren meine Magersucht überstanden, erfolgreich. Ich hungere nicht mehr, Ich liebe gutes Essen und guten Wein. Ich brauche nicht ständig zum Sport eilen um mich gut zu fühlen.

Aber ich schreibe diese Geschichte, weil meine Schwester mir vor einer Woche mitteilte, dass sie mit 20 Jahren an Bulimie erkrankt ist und es mir 4 Monate verschwiegen hat um mich zu schützen. Es fühlt sich an als würde eine Welt über mir zusammen brechen…

Ich hab seit vielen Jahren durch viel Lebensqualität den Sinn der eigentlichen Magersucht verloren.

Aber nun zu meiner Geschichte. Ich war damals 14 Jahre alt, sehr sportlich und ehrgeizig, so wie viele Essgestörte. Mein Leben war eigentlich traumhaft. Ich hatte viele Freunde, war Turnerin und hatte ein Pflegepferd. Meine Eltern unterstützten mich, wo es nur ging.

Doch dann wurde ich 15 und nahm urplötzlich an Gewicht zu, als ich mit der Anti-Babypille anfing. Innerhalb von 3 Wochen nahm ich drei Kilo zu. Ich hatte immer viel und ausgewogen gegessen und hatte nieeee Probleme mit dem Essen. Ich wurde immer schon für mein Aussehen bewundert.

Doch jetzt die paar Kilo mehr? Damit kam ich nicht klar, ich musste abnehmen! Ich ernährte mich dauerhaft weiterhin gesund und macht viel Sport und ging ins Fitnessstudio. Doch anstatt abzunehmen wurde ich zwar muskulöser aber nicht schlanker. Also beschloss ich, eine Radikal-Diät zu machen und verlor innerhalb weniger Wochen an Gewicht aber auch Kraft. Langsam merkte ich wie sehr ich an Kraft verlor, meine Konzentration und meine Lebenskraft ließen nach. Aber mir gefiel – oder viel mehr meiner Perfektion gefiel – wie diszipliniert ich in kurzer Zeit so viel Gewicht abgenommen hatte. Ich beschloss, dass es genug war.

Doch was esse ich nun? Mein Hungergefühl? Was ist das überhaupt? Ich war mir nicht mehr bewusst was Hunger eigentlich ist, da ich dieses Gefühl dauerhaft unterdrückt hatte. Ich beschloss,  mich im Internet schlau zu machen und fand heraus, dass man mit XX kcal nicht wirklich zu oder abnehmen sollte. Nun gut, also fing das Kalorienzählen an.

Mir täglich Gedanken darum zu machen, was denn genug sei und immer mehr Kraft und Lebenslust zu verlieren, wurde mir irgendwann zu viel. Meine Eltern fingen an, sich Sorgen zu machen und als ich eines abends betrunken nach Hause kam und meinen Eltern mit Tränen in den Augen erzählte was los war, wussten sie schon lange Bescheid.

Ich musste mit meinem geliebten Sport aufhören, der der eigentliche Bestandteil meines Lebens war. Doch die Kraft war nicht mehr da, um es weiter durchzustehen. Doch ich wusste nicht mehr, was ich mit meinem Leben noch anfangen sollte. Ich verirrte mich immer und immer wieder in den Alkohol um in meinem Leben immer mal wieder etwas Freude zu haben, doch dies hielt nur für Stunden. Meine Eltern fingen an sich zu streiten, was sie wirklich nur selten taten, da meine Eltern ein Herz und eine Seele sind und meine Schwester litt dauerhaft und bekam nie die nötige Aufmerksamkeit, die sie sich eigentlich erhofft hatte. Und so ging ein quälendes Jahr vorbei bis ich mit XX Kilo in die erste Klinik kam.

Meiner Meinung nach der schlimmste Aufenthalt, den ich je hatte in einer Klinik. Wir mussten essen was auf den Tisch kam und durften erst gehen, wenn alles aufgegessen war. Mit einigen Kilo mehr sagten mir die Therapeuten, ich dürfe gehen. Also aß ich heimlich auf meinem Zimmer bis ich endlich mit XX Kilo den „Laden“ verlassen durfte.

Mir war nur klar, dass ich danach wieder abnehmen würde und einfach viel Sport machen würde, also back to basic hey? Ich fing an, jeden Tag stundenlang zu joggen und Kalorien zu zählen. Ich fand einen ersten netten Mann mit 17 Jahren, der mir eigentlich hätte Kraft geben sollen. Aber das tat er nicht, ganz im Gegenteil, er meinte nur ich sei doch gar nicht dick. Alsoooo .. genau XX Kilo später und mit zerstrittenen Eltern wurde ich nach Bad Oeynhausen geschickt und dieses mal hatte ich den Willen, etwas zu verändern. Warum sollte diese Krankheit und diese Stimmen im Kopf mein Leben beherrschen? Meinen Sport und meine Lebensenergie wollte ich wieder haben. Ich wollte dafür kämpfen.

Und das tat Ich. Bad Oeynhausen ist bis heute glaube ich eine von den Kliniken, die mir Kraft gaben. Während der Therapie wurde mir klar, dass ich durch die Veränderung der Hormone im Körper auch noch Angstzustände und Depression bekam. Ich habe nach 9 Wochen mit XX Kilo die Klinik verlassen. Ich war auf dem Weg der Besserung. Da ich mich damals viel mit meinen Eltern gestritten hatte war klar, dass ich mit 18 sofort ausziehen würde und das tat ich auch.

Ich werde nicht weiter auf die Einzelheiten der Magersucht eingehen in meinem Text da wir alle wissen, wie es ist mit der Krankheit zu leben und ich habe gelernt, der Krankheit so wenig Aufmerksamkeit wie es geht zu schenken. Ich lernte wieder einen Mann oder sagen wir Jungen kennen, der mir Kraft gab. Ich zählte mit 18 Jahren immer noch Kalorien und fühlte mich oft noch schwach. Doch ich hatte Sex, konnte essen ohne mich schlecht zu fühlen und ich ging zu Schule. Als alles wieder relative gut klappte, fing ich an mir einen Job zu suchen um mich abzulenken da ich immer noch Stimmen im Kopf hatte, die mir sagten, was ich tun sollte.

Ich fing an, als Kellnerin zu arbeiten. Ich bekam Geld und konnte mir meine eigenen Dinge kaufen. Ich arbeitete und ging zur Uni. Ich konnte unbeschwert mit meinen Arbeitskollegen abends eine Pizza essen. Ich arbeitete viel und feierte viel und hatte um die XX Kilo. Es war okay so wie es war. Depression und Angstzustände waren leider immer noch da doch durch den Job erhielt ich Selbstbewusstsein welches mich stärkte.

Mit 20 Jahren beschloss ich mein BWL Studium abzubrechen und mich von meinem Freund zu trennen, da es einfach nicht klappte. Innerhalb von 2 Monaten beschloss ich, mich aus Deutschland zu verabschieden und reisen zu gehen. Ich hatte panische Angst wie es sein würde mit Depressionen zu reisen, doch ich wollte mir den Schritt beweisen. Ich hatte gelernt, dass Dinge außerhalb meiner Comfort Zone meine Krankheit in den Hintergrund rückten lassen.

Ich flog also nach Australien für ein Jahr und reiste dann durch Asien. Ich wog nach einem halben Jahr XX Kilo, da wir viel Alkohol tranken und nur Müll aßen, aber hey es war okaaay. Ja genau, es war okay. Das Reisen und Leben ausserhalb der Welt die ich kannte, gab mir das unglaublich glückliche Gefühl, im Leben wieder einen Sinn zu sehen. Ich fing an zu surfen und ich hatte DEN Sinn in meinem Leben wiedergefunden, etwas was mir Spass machte.

Diese Verbundenheit zur Natur gibt mir ein Gefühl, dass diese ganze Geschichte des Schlankseins uns durch die Medien in die Köpfe gesetzt wurde. Was hat Schlanksein für einen Sinn im Leben??? Anerkennung? Genau, und diese brauchen wir in der heutigen Welt, so wird es uns jedenfalls eingetrichtert, damit wir wenige Jahre später an einer Essstörung oder Burn out erkranken nur weil wir Ansehen brauchen. Super Deal oder? Wer an einer Essstörung erkrankt weiß genau, wie die Lebensqualität schwindet und die Krankheit das Leben bestimmt.

Versteht mich nicht falsch, ich schaue immer noch ab und an skeptisch in den Spiegel und denke mir „Was wäre wenn?“ Mein momentanes Leben aufgeben? Das Surfen, das Reisen, die Menschen, die Kulturen, mir meine Lebensenergie nehmen lassen nur um schlank zu sein? Neeeein danke. Ich studiere mittlerweile in einer kleinen Stadt in Holland, habe tolle Freunde kennen gelernt und fliege ab und an mal um die Welt. Ich wiege um die XX Kilo und mach 3-4 mal die Woche Sport und den brauche ich einfach um mich wohl zu fühlen und meinen Kopf freizubekommen vom alltäglichem Leben. Es gibt manchmal Tage wo ich in die Gedanken zurückfalle, weil man jeden Tag aufs Neue daran erinnert wird, dass man ja schlank und gut aussehen muss um im Leben was zu schaffen (Danke Social Media).

So das war nun die Kurzfassung meines Abenteuers. Ich hatte es verdrängt jemals darüber zu schreiben, doch ich will meiner Schwester mit diesem Beitrag helfen und ihr zeigen, dass es nicht so sein muss und ich hoffe, sie damit zu unterstützen. Ich weiß, dass jeder Tag eine Qual ist, aber es muss nicht so sein!!!

Wo findest du dich in dieser Geschichte wieder und was nimmst du daraus mit?

Das Aufschreiben und Veröffentlichen deiner eigenen Geschichte hilft dir und anderen!

Schicke mir die Geschichte deiner Essstörung an info@lebenshungrig.de, ich veröffentliche sie anonym.

lebenshungrige Grüße

Simone