Die dreiundzwanzigste Geschichte (d)einer Essstörung

Eine weitere mutige Frau, die ihre Geschichte offen mit uns teilt:

Ich war damals ein 15 Jahre altes, fröhliches, lustiges, ehrgeiziges und sehr soziales Mädchen, das einen Weg vor Augen hatte – Pläne und Träume und Ziele, die Welt verändern – bis ich mich verlaufen habe.

Im Frühling 2011 bin ich mit 20 anderen Schülern aus meinem Jahrgang nach Amerika an die Westküste gefahren. Ich hatte die besten 3 Wochen meines Lebens. Als ich zurück in Deutschland war, war plötzlich alles anders. Ich war mir sicher, ich hätte einiges zugenommen in der Zeit, was natürlich aus sein konnte, da das Essen in den USA sich schon sehr vom deutschen Essen unterscheidet. Zuvor habe ich mir noch nie Gedanken über Gewicht und Aussehen gemacht, weil ich bis zu dem Zeitpunkt immer sehr schlank war, ungefähr 58 Kilo bei 176cm. Ich habe nie über das Essen nachgedacht und vor allem in der Schule immer sehr viel Brot und Süßigkeiten gegessen. Am 5. August 2011 habe ich die Entscheidung getroffen, ab sofort nie wieder in der Schule zu essen. Das war sozusagen der erste Schritt in eine völlig falsche Richtung.

Ich habe angefangen zu joggen, obwohl ich Sport gehasst habe und weil ich das Gefühl hatte, es würde sich nichts verändern, habe ich meine Mahlzeiten reduziert sodass ich täglich nur noch 3-mal etwas gegessen habe. Abends habe ich meine Zeit damit verbracht auf Fitness- und Diätseiten im Internet nach Tipps zum Abnehmen zu suchen, ich habe Kalorientabellen auswendig gelernt und mir Wissen zum Thema ‚Gewichtsverlust‘ angeeignet. Ich war der Überzeugung, dass all diese Dinge auf mich zu treffen und dass ich mehr als Übergewichtig war. Meine Ernährung bestand nur noch aus ‘gesunden Lebensmittel‘, das hieß für mich aus Äpfeln und kalorienarmen Gemüse, ab und zu mal Brot und Nudeln. Um Heißhunger-Attacken vorzubeugen, von denen ich so viel gelesen hatte, habe ich mir jeden Mittag ein Stückchen Schokolade gegönnt. Es war alles ganz genau geplant. Ich stand stundenlang vor dem Spiegel und habe mich analysiert und kritisiert und mir schließlich zum Ziel gesetzt, dass mein Bauch abends genauso aussehen soll wie morgens. Dieses unrealistische Ziel habe ich jeden Tag vor Augen gehabt und war besessen davon es endlich zu erreichen. Heute denke ich, dass ich sowieso nie erreichen hätte können.

Irgendwann, Mitte Juli 2012, war ich dabei ein Kleid für einen Tanzabend zu suchen, als meine Mama ins Zimmer kam und sah, wie ich aus jedem einzelnen Kleid in Größe 34/36 raus fiel. Sie war erschrocken und nahm mich direkt am nächsten Tag mit zu unserer Frauenärztin. Ich sollte mich auf ihre Waage stellen. 48 Kilo. Für mich war diese Zahl nicht wirklich neu, ich habe mich auch zu Hause gewogen, aber ich habe den Waagen nicht vertraut. Ich habe auch diesen Zahlen nicht geglaubt. Ich habe nur geglaubt, was ich im Spiegel sah, ich habe nur meinen Augen vertraut. Aber in Wirklichkeit waren meine Augen schon längt „kaputt gegangen“.

Von Juli bis Oktober lebte ich weit weg, in der Welt der Anorexie. Ich habe alle Menschen von mir weggestoßen, habe mich abgeschlossen von der Welt und vom Leben, weil ich allein sein wollte, allein in meinem Bett, allein in der Kälte. Es ist nichts geblieben außer blasse die Erinnerung an eine graue, kalte, einsame, dunkle Zeit, in der es mir egal war, was passiert, mir war alles egal.

Im Oktober 2012 bin ich in eine Klinik speziell für Essstörungen gegangen, um meine Familie zu beruhigen. Ich war der Überzeugung, dass ich kerngesund war und ich sowieso gleich wieder nach Hause geschickt werden würde. Dem war nicht so. Ich hatte ein Art ‘Aha-Moment‘, als mir gesagt wurde, dass ich zwei Mal am Tag einen ‘Nutrition-Drink‘ trinken muss, weil ich so untergewichtig bin – und kein anderes von den super dünnen Mädchen musste das. Ich wog 42 Kilo – ich war überhaupt nicht mehr da.

Die Wochen in der Klinik waren gleichzeitig die schönste und die schwierigste Zeit in meinem Leben. Ich habe viele wunderbare Menschen kennengelernt, ich habe sehr viel über mich gelernt, habe die Gründe für die Magersucht herausgefunden und versucht gesund zu werden. Aber eigentlich habe ich es nicht wirklich versucht. Wo es ging habe ich gelogen und betrogen und geschummelt, um doch so gut es ging der Essstörung die Kontrolle zu überlassen. Ich war so stark und schwach zugleich. Nach genau 100 Tagen und so viel ungenutzter Zeit bin ich im Januar 2013 wieder nach Hause gegangen, mit 5 Kilo+ und ganz viel Motivation.

Als ich zurück war, habe ich mich so lebendig wie noch nie gefühlt. Von Januar bis September war es wieder wie früher. Ich war wieder Tanzen und habe gegessen, habe alte Freunde getroffen, die ich durch die Krankheit fast verloren habe, ich habe angefangen in einer Kindertagesstätte zu arbeiten um mein Fachabitur zu bekommen, und ich habe gegessen, mein Ex-Freund und ich haben uns wieder verliebt, ich wog plötzlich mehr als je zuvor (61 Kilo) und mein Leben war fast perfekt – und dann wurde es Winter und die Depressionen kamen wieder und es wurde wieder kalt und grau und dunkel und ich wollte einfach nur allein sein. Ich habe einen Monat lang aufgehört zu arbeiten und die ganze Zeit in meinem Bett gelegen. Das Essen wurde wieder schwer und jedes Gramm weniger machte mich glücklich – ich griff wieder nach der starken Hand der Essstörung und sie hatte mich zurück. Monatelang kämpfte ich mit dem Essen, mit mir, mit meinem Freund, mit meinem Körper, mit der Depression, mit der Welt und ich fühlte mich wie einer Versagerin weil ich es nicht mehr konnte, weil das abnehmen auf einmal so viel schwerer war – ich war in einem Meer aus Scherben und Tränen.

Im September 2014 zog ich, inzwischen 18 Jahre alt, zusammen mit meinem Freund nach Groningen, Niederlande, um dort Soziale Arbeit zu studieren. So weit von der Küste entfernt wie noch nie zuvor schwamm ich in Angst und Hass, Zweifel und Einsamkeit. Ich gab mein Bestes, um auf einer neuen Sprache in einem fremden Land ein neues Leben zu beginnen, mit neuen Menschen und einer neuen Aufgabe. Aber ich hatte so wenig Kraft zum Schwimmen, dass ich außer guten Noten nichts von all dem schaffte. Ich war besessen davon, gesund und proteinreich essen zu müssen, machte jeden Tag eine Stunde Muskelaufbautraining und mein Verhalten wurde hochgradig orthorektisch.

Irgendwann Anfang Februar 2015 bin ich bei Instagram auf ein Mädchen aus Norwegen gestoßen die ihren Weg aus der Magersucht mit der Welt teilte. Sie war schon seit einiger Zeit körperlich und psychisch gesund, aber half weiterhin anderen Mädchen und Jungen bei ihrem Kampf aus der Essstörung. Ich fühlte mich so verstanden und begriff plötzlich, wie krank ich eigentlich noch war und wie viel schöner ein Leben ohne Einschränkung, ohne Zwang, ohne Kontrolle – ohne Essstörung – doch wäre. Ich begann meinem Körper die Regie zu überlassen und vertraute so gut es ging darauf, dass er das richtige tat. Ich habe Tag für Tag 3000 kcal + gegessen um meinem Körper die optimalen Chancen zu bieten, sich selbst zu reparieren. Es war so hart. Ich bin ins Wasser gesprungen, obwohl ich nicht schwimmen konnte.

Es waren drei unglaublich schwere Monate mit Wassereinlagerungen, Schmerzen und Krämpfen, mit einem aufgeblähten Bauch, Müdigkeit, mit Angst und Zweifeln. Ich musste lernen zu akzeptieren, dass die Waage nie wieder eine niedrigere Zahl anzeigen wird; es fühlte sich, an als ob ich für immer zunehmen würde.

Im April 2015 bemerkte ich, dass ich aufgehört habe zuzunehmen, dass mein Hunger- und Sättigungsgefühl wieder zurück sind und dass ich mich auf meinen Körper verlassen kann.

Mein Bauch ist endlich flach, so wie ich es immer wollte, ich fühle mich jetzt mit 62 Kilo, also mit 20 Kilo mehr, schlanker als ich mich in den ganzen Jahren je gefühlt habe. Meine Haare fallen nicht mehr aus, meine Lippen sind heil, meine Haut ist nicht mehr grau und ich kann mein Leben gestalten wie ich es möchte, weil ich endlich genug Energie dafür habe.

Ich hätte nie geglaubt, dass es wirklich funktioniert, dass ich wirklich gesund werden kann. Trotz der ganzen Anstrengung und der Angst habe ich nicht aufgehört.

Ich habe meinem Körper und meine Kopf die Möglichkeit gegeben, gesund zu werden.

Und ich habe alles richtig gemacht, es hat sich so so sehr gelohnt!

Wo findest du dich in dieser Geschichte wieder und was nimmst du daraus mit?

Das Aufschreiben und Veröffentlichen deiner eigenen Geschichte hilft dir und anderen!

Schicke mir die Geschichte deiner Essstörung an info@lebenshungrig.de und ich veröffentliche sie hier anonym.

lebenshungrige Grüße

Simone