„Den eigenen Schatten umarmen“ Das Nacht-Esser-Syndrom

Frauen, die regelmäßig nachts aufwachen, um dann wie ferngesteuert den Kühlschrank zu plündern, leiden unter einer Essstörungs-Form, die Nacht-Esser-Syndrom genannt wird. Susanna ist eine dieser Frauen und sie hat ihren Weg raus aus dem Nacht-Esser-Syndrom in einem kleinen Büchlein festgehalten. Hier ein Auszug für euch:

14. Oktober 2010. Ich bin im Wartezimmer der psychosomatischen Ambulanz der Uniklinik angekommen. Fast habe ich das Gefühl, den Halt zu verlieren, meine Beine schlottern. Mein Mund ist trocken, und der Magen hat sich zusammengekrampft. Mein Herz klopft bis zum Hals, in mir kommt der Impuls auf, doch noch zu flüchten, herauszurennen in die frische Luft, einfach die Situation zu verlassen. Aber letztlich habe ich nichts mehr zu verlieren, so wie bisher kann mein Leben nicht weitergehen.

In den vergangenen Monaten bin ich schon unzählige Male draußen an der Klinik vorbeigeschlichen, als ob ich auf ein Zeichen von dort drinnen wartete oder vielleicht darauf, dass jemand herauskommen würde, um mich abzuholen. Ich habe die Homepage gelesen, wieder und wieder, die Angebote der Klinik, die Wegbeschreibung, mir die Mitarbeiter und ihre Sprechstunden und wissenschaftlichen Schwerpunkte angesehen. In aller Heimlichkeit, zu Hause, aber schon mit dem drängenden Gefühl, dass mich mein Weg dorthin führen würde. Gerne wäre ich einfach hingegangen und hätte mich mit allem, was mich belastet, einem Menschen anvertraut.

Was aber, wenn mich jemand dabei gesehen hätte? Oder, noch schlimmer, wenn ich dort in der Klinik überraschend auf einen ärztlichen Kollegen gestoßen wäre? Was, wenn einem Mitarbeiter meine Patientenakte in die Hände gefallen wäre, mit der entsprechenden Diagnose und meinen persönlichen Daten? Alleine die Vorstellung, dass meine Geschichte dort irgendwo schriftlich fixiert würde – völlig undenkbar.

Bisher habe ich mein kleines großes Geheimnis sorgfältig behütet. Ich habe versucht, mir selber zu sagen, dass ich keinen Grund zur Klage habe, schließlich bin ich doch gesund. Ich bin in eigentlichen allen Bereichen sehr leistungsfähig, beruflich wie privat. Auch gelte ich natürlich für die Außenwelt als gesund und belastbar, das bekomme ich von außen widergespiegelt. So schnell gebe ich nicht auf, ich funktioniere immer, habe die Dinge im Griff. Fehlzeiten oder sonstige Ausfälle vom Funktionieren kenne ich so gut wie gar nicht. Wie passt das mit dem Status „Krank“ zusammen? Und: wo keine Krankheit thematisiert, kein Anliegen vorgebracht wird, wird auch nicht nachgefragt, untersucht, keine Diagnose gestellt; es existiert kein Problem, oder?

Den Seitenwechsel zu vollziehen, die Rolle der Ärztin gegen die der Patientin zu tauschen, fällt mir in diesem Fall so unglaublich schwer. Deshalb habe ich es bisher dabei belassen, außen an der Klink entlangzugehen und mir vorzustellen, wie es sich wohl anfühlen würde, einfach nur als Mensch, der Hilfe braucht, hineinzugehen.

Nun aber bin ich im Leben so weit unten angekommen, dass mich nichts und niemand auf der Welt mehr davon abhalten kann, Hilfe zu suchen. Deshalb habe ich einen Termin in der psychosomatischen Universitätsklinik gemacht, und zwar in der offenen Sprechstunde für essgestörte Menschen. Da die Hemmschwelle hierbei nicht nur bei mir enorm hoch ist, gibt es an der Klinik ein sogenanntes niederschwelliges Angebot für Patienten. Damit ist gemeint, dass Hilfesuchende einfach einen Termin vereinbaren und die Möglichkeit bekommen, mit einem Arzt zu sprechen, sich erstmals jemandem anzuvertrauen. Und dass man sich vielleicht eine erste Einschätzung geben lassen kann. Was kann man tun? Wie könnte man die Thematik angehen? Wie krankhaft ist das Ganze eigentlich?

Eine Überweisung vom Hausarzt braucht nicht vorgelegt zu werden, auch die Versichertenkarte wird nicht benötigt. Diese sonst selbstverständlichen Formalitäten können nämlich schon der Grund dafür sein, dass Betroffene zurückschrecken und sich gar nicht erst anmelden. Allein der Anruf beim Hausarzt, um eine Überweisung zu bekommen, und die Frage von der Arzthelferin „Worum geht es denn bitte?“, sind wahnsinnige Hürden, weil man sich ja schon outen muss. Und das mit dem Essen ist mein tiefstes, abgründigstes Geheimnis, meine größte Peinlichkeit, mein größtes Versagen.

Man darf also einfach in der Klinik anrufen und bekommt einen Termin bei einem Arzt, nur der Familienname und die Uhrzeit werden mit Bleistift in einem Terminkalender notiert. Das ist auch das Äußerste, wozu ich im Moment den Mut aufbringe. Ich weiß selber noch gar nicht, was für eine Antwort ich mir erhoffe, in diesem Augenblick zählt erst einmal nur die offene Aussprache über meine Lebenssituation.

Innerlich ahne ich bereits die Antwort und weiß auch, dass ich vor dem Thema Essen nicht mehr länger davonlaufen kann. In den Minuten des Wartens versuche ich, mich auf meinen Atem zu konzentrieren, um der Aufregung etwas entgegenzusetzen. Tief ein und noch tiefer wieder aus. Ein – aus, ein – aus. Das Wartezimmer ist weiß gestrichen, es liegen Zeitschriften aus wie beim Zahnarzt. In einem der Sessel gegenüber, sie haben hier Sessel aus Metall mit schwarzem Leder als Sitzfläche und Rückenlehne, sitzt eine ca. 50 Jahre alte Frau, die auch etwas nervös und ratlos wirkt und ebenfalls wartet.

Ich bin nicht alleine hergekommen, sondern habe unser zweites Kind, das gerade vier Monate alt ist, dabei. Jetzt ziehe ich dem Kleinen Mütze und Schal aus, hier drinnen ist es ziemlich warm. Nach ein paar Minuten werde ich von einer Ärztin aufgerufen, Gott sei Dank!

Wer wissen möchte, wie es weiter geht, der kann hier weiterlesen Den eigenen Schatten umarmen: Erfahrungen mit dem Nacht-Esser-Syndrom (Affiliate-Link zu Amazon.de)

lebenshungrige Grüße

Simone