Teil 3: “Ich brauche den Austausch mit essgestörten Menschen.”
Haben wir uns die Essstörung eingestanden und nehmen wir professionelle Hilfe in Anspruch, wird es Zeit für einen dritten Schritt. Die Profis helfen uns dabei, von außen auf unser Problem schauen zu können und unsere „Denkfehler“ zu erkennen. Genau so wichtig finde ich es aber, eine Austauschmöglichkeit mit anderen Menschen zu haben, die auch eine Essstörung haben, mit denen wir uns identifizieren können. Denn dieser Austausch ist eine großartige Unterstützungsmöglichkeit. Wir lernen dabei, dass wir kein hoffnungsloser Einzelfall sind. Es gibt andere, denen es ähnlich ergeht. Von ihnen können wir lernen, anders mit unserer Essstörung umzugehen. Und von ihnen können wir auch lernen, wie wir nicht mit unserer Essstörung umgehen sollten. Es gibt immer jemanden, der weiter ist als wir und es gibt immer jemanden, dem wir voraus sind. Nicht nur Selbsthilfegruppen sondern auch die meisten Klinikkonzepte leben von dieser gegenseitigen Patientenunterstützung.
Der Austausch mit anderen Betroffenen
Warum Frauen mit einer Essstörung Gleichgesinnte brauchen, habe ich schon mal erklärt. Menschen, Bilder, Filme, Musik, all dies kann helfen, uns mit uns und unserer Essstörung konstruktiv auseinander zu setzen. Ich habe durch den Besuch der Selbsthilfegruppe OA und auch während meiner Klinikzeit erfahren, wie gut es tut, Menschen zu treffen, die wissen was es heißt, eine Essstörung zu haben. Diese positiven Erfahrungen waren ein Grund für mich, lebenshungrig ins Leben zu rufen. Wie wichtig helfende Menschen für uns sind, möchte ich Euch durch ein kleines Experiment verdeutlichen: Nimm Dir bitte ein paar Minuten Zeit, um die folgenden Fragen zu beantworten:
- Nenne die fünf reichsten Menschen der Welt:
- Nenne fünf Nobelpreisträger der letzten drei Jahre:
- Nenne die letzten drei „Miss Germanys“:
- Nenne fünf „Oscar“ GewinnerInnen der letzten drei Jahre:
- Nenne die letzten fünd deutschen Außenminister:
Und? Konntest Du alle Fragen komplett beantworten? Wahrscheinlich nicht, obwohl Du sicherlich all die Antworten irgendwann einmal gelesen aber dann wieder vergessen hast. Warum ist das so? Obwohl es sich bei diesen Menschen um die „Besten der Besten“ handelt, vergessen wir die Headlines von gestern schnell wieder, wenn wir keinen persönlichen Bezug dazu haben. Und jetzt gibt es noch fünf Fragen. Mal schauen, wie Du Dich diesmal schlägst:
- Nenne drei Lehrer/Professoren/Mentoren, die Dich während Deiner schulischen und beruflichen Laufbahn unterstützend begleitet haben:
- Nenne drei Freunde, die Dir durch schwierige Zeiten hindurchgeholfen haben:
- Nenne drei Menschen, die dazu beigetragen haben, dass Du Dich angenommen und/oder einzigartig gefühlt hast:
- Nenne fünf Menschen, mit denen Du sehr gerne Deine Zeit verbringst:
- Nenne fünf „Heldinnen oder Helden“ (real oder fiktiv) die Dich inspiriert haben:
Das war leichter, oder? Die Menschen, die Dein Leben positiv beeinflussen, sind nicht unbedingt die, die große Preise gewinnen, sondern die, zu denen Du einen persönlichen Bezug hast.
Austausch bringt Erleichterung
Wenn wir den ersten Schritt gemacht haben, fühlen wir uns unverstanden und wir schämen uns. Wenn wir den zweiten Schritt gehen und uns eine Therapeutin suchen, schafft es Erleichterung zu hören, dass wir nicht alleine mit der Störung sind. Aber der Satz „Ja, dass kenne ich auch!“ der tut sehr, sehr gut. Und diesen Satz sagen nur andere Menschen, die auch eine Essstörung haben oder gehabt haben. Dabei geht es um die Erfahrung, immer und immer wieder verstanden und angenommen zu werden. Diese Erfahrung wiederum hilft uns, langsam offener zu werden und uns anderen – auch nicht Essgestörten – mitzuteilen. Wir fühlen uns nicht mehr, wie der totale Freak. Zu Beginn meiner Essstörung wäre ich lieber gestorben, als jemandem davon zu erzählen. Aber je mehr ich mich mit anderen Betroffenen ausgetauscht habe und je mehr ich verstanden habe, desto leichter wurde es, auch anderen Freunden bzw. meiner Familie relevante Dinge zu erzählen. Je mehr ich erzählen konnte, desto mehr Verständnis bekam ich und desto besser konnte ich mich selbst verstehen. Auch beim Telefon-Coaching beobachte ich das folgende “Phänomen”: Ich höre zu und sage z. B.: “Okay, ich coache gerade mindestens vier andere Frauen, denen es ähnlich ergeht.” Stille am anderen Ende. Und dann ungläubig und erleichtert: “ehrlich?!?”
Mein erstes Treffen
In meiner Geschichte erzähle ich über mein erstes OA Meeting. Bei diesem Meeting war ein in Deutschland lebender Amerikaner zu Gast, der über seine Erfahrungen und seinen Weg raus aus der Essstörung erzählt hat. Obwohl ich scheinbar so gar nichts mit ihm gemeinsam hatte – er war ein homosexueller amerikanischer Künstler – fühlte ich mich so sehr verstanden von ihm und verstand ihn sehr gut. Während dieses Treffens bekam ich eine erste Ahnung, dass ich wirklich nicht die Einzige mit diesen Problemen war. Und dieser Mann machte mir ein großartiges Geschenk: Hoffnung! Er hatte es geschafft und machte so einen zufriedenen und in-sich-ruhenden Eindruck… Von diesem Augenblick an war mir klar: „Das will ich auch, koste es, was es wolle. Ich will raus aus dieser Essstörung und rein in mein Leben.“
Selbsthilfegruppe mit oder ohne professionelle Leitung?
Während die Treffen der OA ohne jegliche Hilfe einer professionellen Leitung auskommen, gibt es auch viele Selbsthilfegruppen, die von einer Therapeutin etc. geleitet werden. Die Qualität von Gruppen ohne professionelle Leitung hängt sehr stark von jeder einzelnen Teilnehmerin ab. Hier ist die Gefahr größer, dass sogenannte “Jammermeetings” entstehen in denen jede immer nur das Negative erzählt. Welche Gruppe die richtige für Euch ist, findet Ihr nur durch ausprobieren heraus. Wenn Ihr an einer Selbsthilfegruppe interessiert seid, dann empfehle ich Euch, einfach mal Eure Stadt in Verbindung mit den Wörtern „Essstörung“ und „Selbshilfegruppe“ bei Google einzugeben. Dort bekommt Ihr hoffentlich ein Ergebnis mit entsprechenden Kontaktdaten. Und dann heißt es anrufen und sich das Ganze anschauen. Achtet am Ende des Treffens darauf, wie Ihr Euch fühlt. Ein gutes Treffen entlässt Euch immer mit einem positiven Gefühl, auch wenn es zwischendrin mal unangenehm werden kann. Geht mindestens drei mal hin, bevor Ihr Euch endgültig dagegen entscheidet. Wenn Ihr das tut, sucht weiter. lebenshungrige Grüße Simone Teil 4 kommt demnächst und heißt: “Ich brauche Interaktion mit mir selbst.” P.S.: Natürlich kann es auch sinnvoll sein, diesen dritten Schritt vor dem zweiten zu machen oder sich erst mal nur für einen der beiden Schritte nach Außen zu entscheiden. Das liegt alleine an Dir.
lebenshungrige Grüße
Simone