Die zweiundfünfzigste Geschichte (d)einer Essstörung

Eine weitere mutige Frau, die ihre Geschichte mit uns teilt:

Ich bin momentan fast 20 Jahre alt und meine Geschichte ist nichts Weltbewegendes, Neuartiges, Besonderes…

Immer wieder lese ich von Personen, die es wirklich schlimm hatten/haben und scheinbar jeden Grund haben “dürfen”, eine Essstörung zu bekommen.

Bei mir war das immer anders. Ich bin Einzelkind, hab damals auf dem Dorf mit meinen Eltern, die glücklich verheiratet sind, in einem Haus gewohnt. Mir hat es sozusagen an nichts gemangelt. Meine Eltern waren fürsorglich und immer für mich da.

Trotzdem soll meine Geschichte eine Art Hinweis für alle Angehörigen sein – denn auch wenn es böse klingt, meine Eltern haben mir vieles erschwert, als ich mit Essstörungen in Kontakt kam.

Zunächst einmal war meine Mutter immer übergewichtig und wollte auch immer abnehmen (mit Diätpillen, Fitnessstudio, Friss-die-Hälfte und was nicht alles). Als ich ungefähr 11 war und meinen kindlichen Bauch zu dick fand, habe ich keinen Anstoß daran genommen, auch abnehmen zu wollen und habe dies auch vor meiner Mutter zugegeben, die das Ganze sicher als Spaß oder “Phase” angesehen hat.

Solche “Tendenzen zum Abnehmen” hatte ich immer wieder – teils mit Erfolg, dann war es mir wieder egal und so weiter. Ich war dann allerdings schon mit 11 untergewichtig, was irgendwie niemand ernst nahm, weil ich noch so jung war.

Mit Einsetzen der Pubertät wurde alles schwieriger: Mein Körper veränderte sich, ich nahm zu, ich hatte auf einmal ganz andere Weltsichten als meine Eltern und kaum eine Person, die meine Vorstellungen unterstützt hat. Ich wurde immer als naiver Weltverbesserer abgestempelt – die Tochter, die eigentlich gar nicht in die harmonische Familie passte. Ich fing an, immer mehr zu rebellieren, weil ich mich nicht ernstgenommen fühlte. Meine Mutter wurde außerdem sehr anhänglich, wollte meine beste Freundin sein und war immer enttäuscht von mir, wenn ich ihre starken Gefühle nicht erwidert habe.

Das hat irgendwann dazu geführt, dass ich das Gefühl hatte, mich immer nur noch rechtfertigen zu müssen. Meine Mutter bezeichnete mich als kalt, abwesend, ich hätte keinen Sinn für die Familie – und das sind Worte, mit denen man mit 14 Jahren nicht beschrieben werden will.

In der Schule ging es dann los, dass ich die erste war, die Brüste bekommen hat in meinem Freundeskreis. Ich hab angefangen, mich dafür zu schämen und mich ständig zu vergleichen. Und gerade in der Pubertät können sich die Körper der Jugendlichen ja sehr stark unterscheiden – es gab immer jemanden, der dünner war, zierlicher war. Ich fing an, weite Kleidung zu tragen und dachte mir “wenn ich dünner wäre, verschwänden auch die Rundungen”. Schon damals war ich außerdem sehr perfektionistisch und konnte es gar nicht leiden, wenn jemand in irgendeiner Weise besser war als ich.

Und ich nahm tatsächlich ab. Fünf Stunden Sport am Tag waren normal für mich. Je mehr mein Gewicht fiel, umso besorgter wurde meine Mutter. (Ich bin meinem Vater heute noch dankbar, dass er sich rausgehalten hat, denn die Beziehung zu meiner Mutter wurde dadurch bis heute sehr geschwächt und mit Spannung beladen).

Erst fing sie an, sich permanent über mein Gewicht aufzuregen. Sie sagte mir, ich sei nicht mehr schön. Ständig versuchte sie mich direkt und schonungslos zu konfrontieren: “Hast du eine Essstörung? Wir müssen darüber reden!”. Ich war dafür aber noch gar nicht bereit und ihre ständigen Kommentare zu meinem Körper und meinem Verhalten haben mich sehr gekränkt, weswegen ich mich stattdessen lieber von ihr abgewendet habe.

Mit 15/16 hatte ich mein Tiefstgewicht erreicht und meine Mutter machte das denkbar schlimmste (aus meiner Sicht): Sie zwang mich zum Essen. Zunächst stellte sie mir Essen hin, als sie jedoch bemerkte, dass ich dieses im Klo runterspülte und versteckte, setzte sie sich wie ein Aufpasser daneben (eine unaussprechliche Qual, ich übertreibe nicht, gerade weil ich immer alles abgestritten habe und mich deswegen normal verhalten musste).

Damals haben wir uns fast täglich gestritten. Ich sagte ihr, sie solle mir nichts erzählen, da sie übergewichtig sei – sie sagte zu mir, ich müsse unbedingt als primäres Ziel zunehmen. Sie setzte mich unter Druck, wenn ich in einer Woche nicht x kg zunahm, würde sie mir meinen Hometrainer wegnehmen. Ich musste mich vor ihr ausziehen und wiegen. Es ist nicht untertrieben zu sagen, dass ich sie dafür regelrecht gehasst habe und mich eigentlich nur noch schlechter fühlte – das waren eben ihre Methoden, als ich ihr einmaliges Angebot zum Arzt zu gehen, ablehnte und mich gegen den Gedanken einer möglichen Essstörung auflehnte. Ich dachte mir immer mehr Wege aus, sie auszutricksen und der Kontrolle zu entkommen.

Irgendwann wurde sie hilflos und weinte oft, weil ich mich angeblich so schrecklich benahm. Ich bekam krasse Schuldgefühle und wollte mich nur noch verstecken. Scheinbar war es nicht genug, dass mein mir eigens vorgesetzter Tagesablauf schon extrem ermüdend und schwierig war. Ich hatte teilweise sehr depressive Phasen und Selbstmordgedanken.

Den Weg aus der Krankheit musste ich 2 Jahre später schließlich alleine gehen, denn eine Therapie wäre mir damals undenkbar gewesen, da sich meine Mutter so kontraproduktiv verhielt und ich selbst nicht wusste, was mit mir los war. Als mir büschelweise die Haare ausfielen und ich nur noch Magenschmerzen hatte, sah ich einen Grund, wieder zu essen.

Mit viel Selbstdisziplin habe ich ein Normalgewicht erreicht. Trotzdem würde ich nie sagen, dass ich “geheilt bin”.

Ich habe seither starke Gewichtsschwankungen und es gibt Zeiten, da fühle ich mich wieder unwohl, fange an, mich zu vergleichen und zu “groß” zu fühlen. Das sind Zeiten, in denen ich entweder hungrig auf Pro-Ana Blogs hänge, oder aber (wie jetzt) diese Mail hier schreibe.

Trotz allem habe ich mittlerweile eine eigene Wohnung und bin selbstständig und diszipliniert genug, nicht wieder abzurutschen. Ich würde mein Essverhalten nicht als gesund ansehen, aber vegan zu werden hat mir persönlich geholfen, mich nicht mehr (zB beim Einkaufen) von dem fülligen Angebot an Nahrungsmitteln überfordert zu fühlen. Es gibt sogar Tage, an denen ich gern esse. Ich würde es so beschreiben, dass ich meine Essstörung nur noch an Tagen herauskrame, an dem ich sie brauche und nach Verständnis suche. Fast niemand aus meinem Bekanntenkreis weiß mit Sicherheit, dass ich Probleme hatte und habe – denn ich war immer sehr erfolgreich im Lügen und Abstreiten. Und so richtig wissen wollte es wohl auch keiner, denn das hätte ja im Endeffekt mehr Arbeit erfordert, als mich beim Essen zu beobachten.

Das Schlimmste für mich (mit Normalgewicht) waren erneut die ganzen Kommentare wie: “Jetzt bist du wieder schön”, “Okay, du hast genug zugenommen” oder “Früher war das ja so schlecht…”.

Diese Geschichte hier soll keine Schuldzuweisung sein. Ich denke, die Ursachen meiner Essstörung liegen und lagen bei mir selbst. Das hier soll nur ein Denkanstoß sein, wie man mit Betroffenen besser nicht umgeht.

Heute jedenfalls sehe ich meine Essstörung fast schon als negative Charaktereigenschaft von mir an und ich denke oft darüber nach, mir nachträglich doch noch Hilfe zu suchen, weil ich Angst habe, dass die Bombe sprichwörtlich platzen könnte. Irgendwie fühle ich mich aber immer noch nicht ganz bereit und ich habe das Bedürfnis, diesen “Teil” von mir als eine Art Sicherheit zu behalten.

Wo findest du dich in dieser Geschichte wieder und was nimmst du daraus mit?

Das Aufschreiben und Veröffentlichen deiner eigenen Geschichte hilft dir und anderen!

Schicke mir die Geschichte deiner Essstörung an info@lebenshungrig.de und ich veröffentliche sie hier anonym.

lebenshungrige Grüße

Simone