Der italienische Entenschnabel
Sommer in Südfrankreich – zwischen all den Reichen und Schönen und denen, die es gerne wären. Manchmal bin ich selbst erstaunt, dass ich die Côte d’Azur so sehr mag.
Aber Südfrankreich hat eine besondere Wirkung auf mich, genauso wie Kalifornien. Auch dort tummeln sich die (möchtegern) Schönen und Reichen. Doch die Yachten, Designerläden und Beach Clubs sind nur eine Art Hintergrundrauschen in meiner Wahrnehmung.
Was mich anzieht, ist die Natur in Verbindung mit einem bestimmten Lebensgefühl. Diese Kombination aus Meer und Bergen, aus Weite und Entspanntheit. All das eingebettet in dieses besondere Licht.
Nicht umsonst sind sowohl Kalifornien als auch die Côte d’Azur Tummelplätze für (Lebens)Künstler aller Art.
Strandtage
Ich gehöre zu den Menschen, die problemlos den Großteil des Tages am Strand verbringen können. Und zwar ohne Handy. Ich lese, häkele und mache Strandspaziergänge.
Und natürlich gehe ich täglich mehrmals ins Meer – schwimmen, springen, tauchen, auf der Schwimmnudel abhängen. Frisurschonende Wasseraufenthalte sind für mich weder gewollt noch machbar.
Dann gibt es da noch all die Zeit, in der ich einfach auf das Meer schaue. Bewegte Bilder, an denen ich mich nicht sattsehen kann. Der Strand ist ein ganz eigener Kosmos, das Strandtuch meine Insel.
Manchmal bleibt mein Blick natürlich auch an Menschen haften. Dann kann es passieren, dass ich über sie nachdenke und beginne, mir selbst Geschichten über deren Leben zu erzählen.
Sonne, Sand und Selfies
Da gab es den obdachlosen Herren, der morgens oft noch schlief, wenn wir zum Strand kamen. Wie ist sein Leben wohl verlaufen? Warum ist er ausgerechnet dort gestrandet? Wäre es okay, wenn ich ihm morgen einfach einen Kaffee mitbringe?
Dann war da der einsame Influencer. Ein Hipster mit Bart, der sich entweder via Handy beim Coolsein filmte oder – mit Handtuch über dem Kopf – auf sein Smartphone starrte. Warum versuchte er, ein Lebensgefühl zu verkaufen, das er offensichtlich selbst nicht hatte?
Überhaupt, dieses ständige Posieren vor Kameras.
Die Freundinnen, die sich untereinander in ähnlich unnatürlichen Haltungen filmten. Sobald die Linse auf eine gerichtet war, wurde das künstliche Strahlen angeknipst. Der Eroberer, der mit Besitzerstolz die “weibliche Trophäe” in Szene setzte. Und – besonders fragwürdig: der (Stief?)Vater, der ständig die posierende Teenager-Tochter vor der Linse hatte. Kotz.
Balzverhalten
Dann gab es da noch den italienischen Entenschnabel.
Eine Frau Mitte dreißig, sehr dünn, sehr blondiert und sehr optimiert. Ihre Lippen waren so prall aufgespritzt, dass ihnen nichts anderes übrig blieb, als sich entenschnabelartig aufzubiegen.
Meist lag der Entenschnabel mit betont gelangweiltem Blick herum und schlürfte dosenweise Diät-Cola. Doch einmal täglich machte er sich auf den Weg ins Wasser. Im knappen und knallroten – durch die künstlichen Brüste stark strapazierten – Bikini, stakste der Entenschnabel durch das knietiefe Meer.
Dabei trug er – mit angezogenen Armen und zu Fäusten verkrampften Händen – eine Leidensmine zur Schau, die auf Frostgefahr im badewannenwarmen Mittelmeer hinzuweisen schien.
Während sie so ihre Kreise zog, achtete die scheinbar mit der Vermeidung von Frostbeulen Beschäftigte darauf, ob sie beobachtet wurde. Sie war eine Gejagte auf der Jagd. “Wo sind die Männer, die mich begehren?” und “wo die Frauen, die mich beneiden” schien sie ohne Worte zu fragen.
Noch so ein Vogel
Und gerade als ich ihn entdeckt hatte, registrierte sie ihn auch. Den französischen Gockel, der sich breitbeinig am Strand stehend aufgeplustert hatte.
Er – dessen Blick sich im Nirgendwo am Horizont zu verlieren schien – schielte durch die Sonnenbrille in Richtung Entenschnabel. Dieser drehte einige Extrarunden für den Gockel und stellte dann befriedigt fest, dass seine Blicke ihm aufs Handtuch folgten.
Mission erfüllt.
Das subtile Balzverhalten der beiden endete erst, als der – deutlich ältere – Partner des italienischen Entenschnabels auftauchte. Und kurze Zeit später erschienen die Kinder des französischen Gockels ebenfalls am Strand.
Die Moral von der Geschichte
Nun sitze ich nicht am Strand, um zu spannen und um fremde Menschen zu verurteilen. Geschichten wie diese – samt Namen der Beteiligten – passieren einfach in meinem Kopf.
Selbstverständlich bin ich mir der Tatsache bewusst, dass das meine Interpretation dessen ist, was ich zu sehen geglaubt habe. Und doch – befürchte ich – ist viel Wahres dahinter.
Ich teile meine Beobachtungen und Vermutungen nicht, um Frauen wie den italienischen Entenschnabel zu verurteilen oder um mich lustig über sie zu machen. Denn hinter besonders optimierten Fassaden stecken häufig große innere Tragödien.
Während ich das Schauspiel belächelte, hatte ich Mitgefühl mit der Hauptdarstellerin. Denn das Drehbuch dieser Geschichte kenne ich selbst. Es war früher auch meins. Und es ist die Anleitung, der so viele MindMates seit Jahren unbewusst folgen:
Sei schön (oder sexy, fleißig, nett, verständnisvoll, …) und du bekommst die Anerkennung und Aufmerksamkeit, nach der du so sehr hungerst.
Und ja – wie an der Reaktion des französischen Gockels zu erkennen, funktioniert das ja durchaus. Allerdings ist die Wirkung – wie bei jedem anderen Suchtmittel auch – schnell verflogen.
Für einen Moment erzeugt die Aufmerksamkeit ein gutes Gefühl: “Er sieht mich, also bin ich (gut genug).” Doch im nächsten Augenblick kann das schon wieder vorbei sein. Und dann muss die gleiche Geschichte – möglicherweise mit anderer Besetzung – erneut inszeniert werden.
Die französischen Glucken
Es gibt zu viele Geschichten wie die des italienischen Entenschnabels.
Doch zum Glück war da ja auch noch eine Gruppe älterer Damen, die französischen Glucken, am Strand-Set. Ihr Revier war ganz vorne, direkt an der Wasserkante. Dort hielten sie täglich Hof auf ihren Klappstühlen. Die Glucken hatten offensichtlich eine gute Zeit zusammen. Und das Aufmerksamkeitstheater interessierte sie nicht.
Hatten sie es aufgegeben, weil es altersbedingt nicht mehr funktionierte, oder war es eine weise Entscheidung, dem Drehbuch nicht mehr zu folgen? Vielleicht gehörten sie zu den wenigen, glücklichen Frauen, die sich nie für dieses Schauspiel erwärmen konnten?
Keine Ahnung. Ich jedenfalls habe die französischen Glucken genossen.
Vor allem diejenige, die sich gackernd ins Wasser stürzte. Weil ich gerade selbst im Meer war, konnte ich ihr Gesicht dabei sehen. Pure Freude, sie strahlte aus sich heraus.
Mein Happy End
In dem Moment schrieb ich das Drehbuch um und stellte mir vor, wie die französischen Glucken den italienischen Entenschnabel in ihre Mitte aufnahmen. Ich sah den Entenschnabel lachen, schwatzen und essen.
Und dann liefen alle Frauen zusammen – vor Freude unsexy kreischend – ins Meer, während sich der französische Gockel kopfschüttelnd auf die Suche nach einer neuen Ente machte.
Mind the screenplay.
MindMuse Simone




