Die dreiundfünfzigste Geschichte (d)einer Essstörung
Eine weitere mutige Frau, die ihre Geschichte mit uns teilt:
Ich weiß gar nicht so recht, wo ich anfangen soll. Vielleicht ganz von vorne.
Ich bin als einziges Mädchen mit drei Brüdern aufgewachsen. In einer Familie, in der alle groß, schlank, gutaussehend und aktiv sind. Ich war schon immer dicker als der Rest. Wenn ich mir Kinderbilder ansehe, stelle ich fest, dass ich bis ich 5 war, zwar nicht dick, aber irgendwie kräftiger als meine Brüder war. Mit ca. 6 Jahren fing es an, dass meine Großeltern, Tanten und Onkel mich auf mein Gewicht und mein Essverhalten ansprachen: “wie viele Scheiben Brot hast du schon gegessen?”; “muss das sein, dass du jetzt noch etwas isst?”; “das nächste Mal, wenn wir uns sehen, hast du abgenommen, versprichst du mir das?”
Zu meinen Brüdern immer nur: “Na Jungs, dann lasst es euch mal schmecken”. Hinzu kam, dass meine Brüder bald herausfanden, dass sie mich mit meinem Gewicht wunderbar ärgern konnten. Es fielen üble Schimpfwörter. “Fette Sau” war noch nett.
Meine Eltern haben nichts gesagt oder zumindest nicht genug, um es zu unterbinden. Um meinen Kummer zu vergessen, fing ich an, heimlich zu essen. Jeden Tag habe ich mir Süßigkeiten gekauft. Das Geld dafür habe ich von meinen Eltern geklaut. Sie haben es nicht gemerkt.
Ich wurde immer dicker und mit 14 Jahren wog ich 95 Kilo. Dann änderte sich mein Leben, denn ich begann, Leistungssport zu machen. Ich nahm in drei Monaten über 20 kg ab, denn mit meinem Gewicht hätte ich nicht vorne mitmischen können. Es folgte die übliche Bewunderung. Auf einmal nannte meine Oma mich nicht mehr beim Namen, sondern “mein schlankes Mädchen”. Es war wunderschön, jedenfalls am Anfang. Ich wurde sehr erfolgreich und schaffte es sogar in die Junioren-Nationalmannschaft. Doch selbst mit meinem Gewicht von 75 kg bei 1,78m Körpergröße und jeder Menge Muskeln, war ich immer noch eine der schwersten Sportlerinnen.
Ständig machten andere Trainer Bemerkungen, ich müsse aufpassen. In Trainingslagern mussten wir uns jeden Tag wiegen und so oft es ging, habe ich danach ein falsches Gewicht angegeben. Damals fing es an, dass ich zwischen Hungern und Fressattacken hin und her gerissen war. Ich konnte mir niemals vorstellen, mit dem Leistungssport aufzuhören, denn die 20 Stunden Training in der Woche halfen mir, mein Gewicht zu halten. Ich hatte unheimliche Angst zuzunehmen. Irgendwann war dann aber doch Schluss mit der Karriere. Noch lange habe ich intensiv Sport gemacht, um mein Essverhalten zu kompensieren, aber mittlerweile mache ich nur noch selten Sport. Ich fühle mich zu fett. Es ist mir peinlich, dabei gesehen zu werden.
Heute dreht sich in meinem Leben immer noch alles ums Essen. Ich mache seit zweieinhalb Jahren eine Therapie, aber dort spielt das Essen eigentlich keine große Rolle. Es soll nur um die Dinge gehen, die dahinter liegen. Die Depressionen und die Gründe dafür. Wenn es mir gut geht, merke ich tatsächlich, dass ich weniger ans Essen denke, aber das ist selten und ich fühle mich mit dem Problem allein gelassen.
Ich wünsche mir immer, dass mich jemand an die Hand nimmt und mich da heraus führt, aber bisher kam noch niemand. Zahlreiche Versuche, es allein zu schaffen, sind gescheitert und mein Selbstvertrauen ist, was mein Essverhalten angeht, auf Null geschrumpft. Wenn es ganz schlimm ist mit den Essanfällen, kotze ich hinterher alles wieder aus, aber meistens behalte ich es drin, so als wollte ich mich selbst bestrafen. Denn für mich ist es das Allerschlimmste, dick zu sein.
Ich will nicht schlank sein, ich will dünn sein, richtig dünn. Jede Mahlzeit ist für mich eine Niederlage, die ich jeden Tag und immer wieder aufs Neue durchleben muss. Ich erwische mich manchmal dabei, dass ich mir wünsche, magersüchtig zu sein. Ich weiß, dass es eine schreckliche und lebensbedrohliche Krankheit ist und trotzdem ist der Wunsch, dünn zu sein, in mir so groß, dass mir alles andere egal ist.
Wenn ich richtig dünne Frauen auf der Straße sehe, wünsche ich mir, auch so auszusehen. Obwohl ich insgeheim weiß, dass es mir auch nicht besser gehen würde, wenn ich von heute auf morgen einfach dünn wäre. Die Heilung findet von Innen heraus statt; so viel habe ich schon gelernt. Fehlt “nur noch” die Umsetzung. Ich hoffe, dass ich es irgendwann schaffen werde, meine Essstörung zu besiegen. Vielleicht wird mir der Online-Workshop dabei helfen…
Ich wünsche allen, die das lesen und die vielleicht gerade an einem ähnlichen Punkt stehen, viel Kraft. Lasst es uns anpacken!
Wo findest du dich in dieser Geschichte wieder und was nimmst du daraus mit?
Das Aufschreiben und Veröffentlichen deiner eigenen Geschichte hilft dir und anderen!
Schicke mir die Geschichte deiner Essstörung an info@lebenshungrig.de und ich veröffentliche sie hier anonym.
lebenshungrige Grüße
Simone