Die vierundzwanzigste Geschichte (d)einer Essstörung

Eine weitere mutige Frau, die ihre Geschichte offen mit uns teilt:

Dank dieser Webseite weiß ich endlich, dass ich hier in Deutschland nicht alleine bin. Woher ich stamme, spielt hier keine Rolle, Magersucht ist doch international.

Für mich war meine Esstörung wie ein Schrei: “Lieb mich doch! Akzeptiere mich, bitte! Gib mir mehr Raum, Freiheit!”… Leider war das Resultat, das ich erreicht habe, gegenteilig. Aber, ab ovo.

Alles startete mit einen Satz, der mein Leben so geprägt hatte, dass ich mit seinen Konsequenzen etwa 8 Jahre (mit langer Pause) existieren musste. Ein Augenblick, der mein Leben für immer verändert hat. Erst aber ein paar Worte der Einleitung.

Damals war ich 14 Jahren alt, eher nicht zu schön, mit Brillen und Bäuchlein (Magenreflux), aber eher schlank trotz meiner Süssigkeitendiät, die so typisch für Kinder isst: Eis hier, Kekse da… Danke mein Fahrrad! In der Klasse hatte ich kaum Freunde, kein Wunder, meine Eltern waren auch unsere Lehrer, dazu musste ich immer “die Beste” sein. Um jeden Preis. Als Einzelkind fand ich die Sache mit “Freundemachen” noch schwerer, doch gab es ein Mädchen, das mir besonders gefallen hat. Ich habe oft geträumt, dass sie auch endlich mit mir spielen wollte. Das passierte aber nie. Meine Eltern sind eher introvertiert, hatten in diesen Jahren kaum Zeit für mich, waren völlig beschäftigt mit ihrer Arbeit und ihrem Garten., Damals, in Zeiten des Kommunismus war die Kindererziehung anders als heute.

Also zurück zur unserer Geschichte.
Wir Mädchen waren alle bei einer ärztlichen Kontrolle. Während der Untersuchung waren wir alle zusammen, alle hören den Untersuchungsergebnissen der anderen zu. Dieses Mädchen, das ich gerne als Freundin gehabt hätte, war vor mir dran.  Ihr Gewicht sei ein bisschen zu niedrig, meinte die Krankenschwester, sie solle mehr essen.
“Aber ich habe keinen Appetit!”  sagte sie traurig.

Anschließend ist es Zeit für mich.
” Naja, Swetlana, schon 46 Kilo?!?”
Meine Wangen brennen vor Scham, im meinen Augen standen Tränen. Ich fühlte mich hundeelend. Bis diese Idee im meinen Kopf erschien:
“Na gut, du hast keine Freunde, weil du einfach zu dick bist! Verlierst du an Gewicht und dieses Mädchen wird deine Freundin, 100% sicher”.

Gesagt – getan.
Es kam der Sommer. Unvergesslich 1996, das Jahr, in dem ich auch die Schule wechseln musste. Meine Eltern hatten extrem viel zu tun, sie wollten unser Haus selbst renovieren, streichen, usw. hatten 10 Minuten beim Frühstück Zeit für mich, der Rest des Tages gehörte mir (und dem Essen). Ich startete eher sanft und gesund: keine Süssigkeiten mehr, kein Abendsessen, nur ein Stück Obst. Statt zwei Scheiben Brot morgens nur eine, usw., dazu mehr und mehr Sport. Und Abführtabletten. Nach 2 Monaten, kurz vor Ende der Sommerferien wog ich etwa 41 Kilo. Das war aber für mich noch zu viel. Leider – oder –  Gott sei dank, verstand meine Mama, was los war.
Der Kampf hatte begonnen.

Dauernde Kontrollen, gigantische Portionen, viel Fleisch, das ich bis heute hasse (bin Vegetarierin), viel Demütigung (zum Beispiel: meine Haare waren in der Suppe gelandet, als ich diese Fleischsuppe nicht essen wollte, danke Papa!), Schreie, Tränen, permanente Lügen, vier Jahren Hölle. Ich habe die Tage gezählt, bis ich endlich zu Uni gehen konnte, denn Uni hieß für mich: FREIHEIT.

Meine Eltern haben mich nie gefragt, warum ich unbedingt diese blöden 36 Kilo wiegen wollte. Nie, nur Druck und Zwang. Und unglaubliche Einsamkeit…

Was hat mich damals gerettet?
Die Liebe.
Ich habe mich platonisch in jemanden verliebt. Er kannte mich nicht. Ich habe ihn an der Uni getroffen. Ich wollte endlich auch schön und kräftig werden. Und ich begann zu essen. Wie auch andere Frauen es hier schon beschrieben haben: fressen. Und zwar leider Süßigkeiten… Den “Trick” mit dem Erbrechen kannte ich damals nicht…
Schnell wog ich 56 Kilo. Ich war völlig bestürzt. Aber ich bekam auch eine Belohnung: Damals habe ich auch meine erste Liebe kennengelernt. Er akzeptierte mich völlig und total. Doch waren wir leider auch noch nicht auf ein gemeinsames Leben bereit, kann passieren.

Inzwischen habe ich ein paar Kilos verloren, diesmal aber ohne zu hungern. Und ich habe meinen zukünftigen Mann kennengelernt. Doch meine Schwiegereltern haben mich nicht akzeptiert und meine Eltern meinten, es wäre nur meine Schuld. Sie hatten für mich kaum Zeit. Na klar, die Arbeit. Dazu musste mein Mann wegen seinem Job nach Deutschland umziehen. Ich hatte eigentlich wenig zu verlieren, als frisch gebackene Mama hatte ich ziemlich niedrige Chancen um meine Arbeitstelle bei der Bank wieder zu bekommen. So landeten wir in Deutschland. Nach ein paar Monaten Euphorie, kam die grausame Realität: ich war stets alleine, hatte keine Freunde, dafür viele Komplexe und konnte kaum Deutsch. An dem Tag, an dem mir dann auch noch meine Deutschlehrerin sagte, dass sie mich nicht länger unterrichten kann,  brach etwas in mir zusammen. Mein Sohn war damals vier, armes kleines Mäuslein…

Nach kurzer Zeit wog ich wieder 35 Kilo, mein Mann hatte zwar alles schnell bemerkt, aber er hatte damals selbst viele Probleme im Job, extrem viel Stress und Verantwortung und er war hilflos. Eines Tages, als ich den Kleinen aus dem Kindergarten abgeholt habe, spürte ich plötzlich den riesigen Schmerz im Bauch. Es war so stark und so lähmend, dass ich mich auf den Boden neben die Bushaltestelle setzen musste. Ich war fast bewusstlos, hatte nur Angst um meinen Sohn. Der Krankenwagen brachte mich zu einem Krankenhaus, die Ärzten konnten die Ursache meines Schmerzes nicht diagnosieren. Doch selbstverständlich haben sie bei mir Magersucht festgestellt und wollten mich in eine Klinik schicken. Das war für mich zu viel.

Ich wollte dringend nach Hause, zu meinem Sohn und Mann. Ich habe ihnen und mir selbst versprochen, dass ich versuche wieder gesund zu werden.

Der Kampf dauerte zwei Jahre (Bulimie kam dazu und auch seriöse Probleme mit meiner Gesundheit: Hypoglykämie, Insulinresistenz, Anämie, Magengeschwüre, Reiz-Darmsyndrom, Probleme mit Hormonen, usw.). Ohne die Untestützung und Liebe meiner zwei Männer wäre ich vielleicht nicht in der Lage, diese Wörter zu schreiben.

Ich habe hier viele kleine Details weggelassen, wie zum Beispiel alle Tricks um das Essen irgendwo zu verstecken, welche Konsequenzen gab es im Fall eines Ausrutschers, usw. Alle, die durch diese Hölle gegangen sind, wissen genau, worüber ich spreche…

Mein Sohn isst wann und wieviel er will, ohne Zwang und Druck, der Kleine ist schlank und entwickelt sich ganz normal, wir kaufen kaum Süßigkeiten. Bei uns gibt es die Regel “Mit dem Essen trösten wir uns nicht, beruhigen uns nicht, bestrafen wir uns nicht. Essen ist nur genauso das, was es ist: Es soll uns satt und gesund machen”.
Ich glaube, dass die Liebe irgendwo anders als im Kochtopf wohnt…

Wir alle sind wie Rosen, die zwar schief gewachsen sind, aber trotz allen Schwierigkeiten blühen werden – und WIE!

Wo findest du dich in dieser Geschichte wieder und was nimmst du daraus mit?

Das Aufschreiben und Veröffentlichen deiner eigenen Geschichte hilft dir und anderen!

Schicke mir die Geschichte deiner Essstörung an info@lebenshungrig.de und ich veröffentliche sie hier anonym.

lebenshungrige Grüße

Simone