Influencer und der bittere
Beigeschmack von”Clean Eating”

Wusstest du, dass sich knapp die Hälfte aller Abiturienten vorstellen kann, Influencer zu werden? Allgemein definiert ist ein Influencer eine Person, die durch ihre (Online) Präsenz andere beeinflusst. Influencer, also Beeinflusser, gab es schon immer. Nur hießen sie früher nicht so.

Es war theoretisch noch nie so leicht wie heute, mit relativ geringem Aufwand viele Menschen erreichen zu können. In der Praxis bedeutet das natürlich, dass es genügend “Influencer-Konkurrenz” gibt. Auch ist nicht jeder Influencer ein Experte auf seinem Gebiet. Und selbst Experten sind nicht immer die besten Influencer.

Doch genau davon gehen wir häufig aus. Wir haben die Tendenz, Personen, die als Autoritäten oder Prominente – als Influencer also – wahrgenommen werden – mehr Glauben zu schenken als anderen. Dieses Phänomen nennt sich “Autoritätseffekt” oder “Autoritätsbias”.

Und hinzu kommt häufig noch der sogenannte “Halo-Effekt”. Er beschreibt, dass wir oftmals unbewusst glauben, dass ein erfolgreicher Influencer auch in anderen Bereichen kompetent ist.

Unser Mind kombiniert also leicht: Ein Influencer ist fachkundig und vertrauenswürdig, auch in Bereichen jenseits seines Schwerpunkts. Und jetzt schauen wir uns mal an, warum das häufig nicht der Fall ist und welche fatalen Folgen unsere (unbewussten) Annahmen haben können.

Und wir tun das am Beispiel einer Frau, die aktuell in aller Munde ist. Ich meine Belle Gibson, eine der ersten großen Influencer. Denn eine “von ihrer Geschichte inspirierte” Mini-Serie läuft seit Anfang des Jahres unter dem Titel “Apple Cider Vinegar” auf Netflix.

(Selbst)Heilung durch “Clean Eating”?

Die australische Wellness-Bloggerin Belle Gibson wurde in den frühen 2010er Jahren international bekannt. Denn sie teilte mit der (Online)Welt, wie sie ihren Hirntumor durch eine spezielle Diät und alternative Therapien in den Griff bekommen hatte. Was auf Instagram und Co. begann, wurde zu der “Influencer Erfolgsstory”.

Denn Belle Gibson ließ ihre eigene App programmieren und zog durch ihre Onlinepräsenzen sogar die Aufmerksamkeit von Apple und Penguin Random House auf sich. Belle Gibson kooperierte mit dem wertvollsten Unternehmen und dem größten Verlag der Welt.

Durch “sauberes Essen” von einer schweren Krankheit zu genesen und dadurch als Influencer enorm erfolgreich zu werden!

Klingt das nicht zu schön, um wahr zu sein? Blöd ist nur, dass es genau das ist. Es ist tatsächlich nicht wahr. Denn Belle Gibson hatte nie Krebs.

Und als Influencer motivierte sie unzählige Frauen dazu, ausschließlich “clean” zu essen. Doch auch daran hielt sie sich selbst nicht. Nun kann ich nicht beurteilen, wie nah die Serie diesbezüglich der Realität gekommen ist. Doch die Serien-Belle ließ es in Bezug auf Fastfood, Alkohol und Koks gerne mal krachen.

Während die Influencer-Variante von Belle sich mit Grünzeug und Säften zeigte, über alternative Heilmethoden und Einläufe schwadronierte und all das mit motivierenden Sprüchen garnierte.

Belles ganze Geschichte, ihr Online-Leben, basiert auf einer Lüge, auf einer “imaginären Influencer-Figur”, die sie erschaffen hatte. Krebskranke folgten dieser erfundenen Person, gaben ihre konventionellen Therapien auf und versuchten – inspiriert von “Wellness-Influencer number one” – sich ausschließlich durch “Clean Eating” zu heilen.

Doch nicht nur ernsthaft physisch Erkrankte folgten der Botschaft von Belle Gibson. Es gab auch eine große Menge Follower, die mit ihrem Körper und ihrem Leben unzufrieden waren und die Belle Gibson als heilbringenden Influencer sahen. Ihr wollten sie folgen, um so zu sein, wie Belle: so schlank, so schön, so strahlend, so beliebt und so erfolgreich.

Influencer und die Folgen für ihre Follower

Während Belle also weder krebskrank war, noch aß und trank, was sie predigte, versuchten eine Menge Follower, Belles Vorgaben genaustens zu folgen. Und die waren ziemlich strikt, sehr extrem und nicht unbedingt alltagstauglich.

Deshalb hatten viele Frauen Schwierigkeiten, sich daran zu halten. Und weil ihnen das so schwerfiel, verurteilten sie sich selbst (noch mehr als zuvor). Wir reden hier von Frauen, die teilweise sehr krank gewesen sind und die sich – ohne es zu ahnen – mit einer kerngesunden Frau verglichen. Sie hielten Belle für eine “Influencer-Freundin”, die sie mochten, der sie trauten und von der sie sich verstanden fühlten.

“Weil ich nicht perfekt sauber gegessen habe, sehe ich nicht so toll aus wie Influencer-Belle, geht es mir nicht so gut, bin ich nicht so erfolgreich und gesund wie sie.” hielten sich Follower vor, während sie immer verzweifelter versuchten, ausreichend Disziplin und Willenskraft aufzubringen.

Ich gehe davon aus, dass der Versuch, Belles “Clean Eating” strikt zu folgen, für viele Frauen zu einem gestörten (Ess)Verhalten geführt – oder ein bereits vorhandenes vertieft – hat. Darauf lässt auch die Doku “Wie Influencer uns täuschen: der Fall Belle Gibson” (Link führt zu YouTube) schließen.

Wie wurde Belle Gibson ein erfolgreicher Influencer?

Viele Menschen fragen sich heute, wie Belle Gibson mit dieser fragwürdigen Geschichte so lange so erfolgreich sein konnte? Und ich glaube, dass da mehrere Komponenten zusammengekommen sind:

  • Belle Gibson war zur “richtigen Zeit” am “richtigen Influencer-Ort”: Instagram war noch relativ frisch.
  • Sie hungerte so sehr nach Aufmerksamkeit und Anerkennung, dass sie bereit war, jeden Preis dafür zu zahlen. Dieser Preis war vor allem die Wahrheit.
  • Belle war vorausschauend und hatte Geschäftssinn, deshalb erkannte sie das Potenzial von Apps und ließ eine programmieren.
  • Unsichere Follower sehnen sich nach einfachen Lösungen für komplexe Themen und Probleme. Und wenn “die einfache Lösung” nicht funktioniert, dann suchen sie die Schuld bei sich selbst, anstatt (auch) den “Influencer-Lösungsansatz” zu hinterfragen.
  • Weder Medien noch Unternehmen setzten sich kritisch mit Belles Geschichte auseinander. Keiner wollte “Beweise”, wie beispielsweise ein MRT oder einen Arztbericht sehen. Man glaubte ihr einfach (Autoritäts- und Halo-Effekt) und wollte an ihrem Erfolg (mit)verdienen.

Wie endete die “Influencer Erfolgsstory” von Belle?

Im Jahr 2015 kamen immer mehr Zweifel an Belles Geschichte auf. Denn sie erfand weitere Krebserkrankungen und widersprach sich in ihren Aussagen. Außerdem stellte sich heraus, dass Belle bestimmte Einnahmen nicht – wie vorab versprochen – an wohltätige Organisationen gespendet hatte.

Die Stimmen, die Nachweise für ihre Erkrankung forderten, wurden immer lauter. Doch da es keinen Krebs gab, gab es natürlich auch keine entsprechenden medizinischen Beweise. Das führte dazu, dass die App verschwand und die Bücher eingestampft wurden. Und Belle selbst verschwand von der Influencer-Bildfläche.

Im Jahr 2017 verurteilte ein Gericht in Melbourne Belle Gibson wegen vorsätzlicher Täuschung zu einer sechsstelligen Geldstrafe. Diese hat sie angeblich bis heute noch nicht gezahlt (Link führt zu diepresse.com).

Scheinbar ist/war Belle Gibson eine pathologische Lügnerin, denn sie hat nicht nur überdramatisiert, manipuliert und inkonsistente Geschichten erzählt, sondern auch in belanglosen Situationen gelogen. So gibt es beispielsweise von ihr in diesem “Konfrontations-Interview” (Link führt zu YouTube) nicht mal auf ihr Alter eine konkrete Antwort.

Influencer

“Clean Eating” Influencer heute

Nicht zuletzt durch “Influencer-Belle” hat sich Clean Eating in den letzten Jahren zu einem einflussreichen Ernährungstrend entwickelt. Die Grundidee dahinter ist relativ einfach:

Wenn du dich gesund ernähren willst, nimm möglichst unverarbeitete, natürliche Lebensmittel zu dir und verzichte auf Zusatzstoffe, stark verarbeitete Produkte und Zucker.

Und das klingt ja erst mal gar nicht so verkehrt. Doch hinter dieser Botschaft, die auch heute viele Influencer erfolgreich verbreiten, verbergen sich meiner Meinung nach einige problematische Gesichtspunkte:

Was ist gesund, was ist clean?

Einer der größten Kritikpunkte liegt für mich schon in der Bezeichnung “sauber”. Denn das impliziert ja automatisch, dass alle anderen Ernährungsweisen “schmutzig oder dreckig” und somit “falsch” sind.

Unsichere Frauen mit einem geringen Selbstwertgefühl klammern sich oft an extreme Konzepte und fühlen sich schnell falsch und nicht gut genug, wenn sie mal “gesündigt” haben.  Sie fühlen sich “dirty”. Die Idee von “sauber” und “schmutzig” führt schnell zu einer Schwarz-Weiß-Denkweise, die unnötig moralisiert.

Der Weg in die Orthorexie

Der Weg vom Wunsch nach “sauberen Essen” in die Orthorexie ist nicht weit. Betroffene achten dann nicht mehr auf “gesunde Ernährung”, sondern sind regelrecht besessen davon, ausschließlich “perfekt saubere” Lebensmittel zu essen. Und das kann zu sozialer Isolation, Angstzuständen und Mangelernährung – mit weiteren Folgen – führen.

Ich glaube, dass viele “Clean Eating Influencer” eigentlich eine Essstörung haben. Dafür spricht auch das unrealistische Körperbild, das sie häufig propagieren bzw. verkörpern. Doch das ist leider genau das Körperbild, welches sich viele Follower (insgeheim) wünschen, weil sie glauben, dass es ihnen damit besser gehen würde.

Influencer und die Wissenschaft

Während die Grundidee, verarbeitete Lebensmittel zu reduzieren und mehr Obst, Gemüse und Vollkornprodukte zu essen, durchaus sinnvoll ist, wird “Clean Eating” oft mit pseudowissenschaftlichen Aussagen vermischt.

Denn einige Influencer verteufeln pauschal Gluten, Milchprodukte oder künstliche Zusatzstoffe, ohne dass es dafür ausreichende wissenschaftliche Belege gibt. Zudem wird der Begriff „verarbeitet“ oft undifferenziert verwendet. Denn nicht alle verarbeiteten Lebensmittel sind automatisch ungesund.

Der Zeit-Geld-Faktor

Ständig einkaufen zu gehen und ausschließlich Bio-Produkte, Superfoods und ausgefallene Zutaten zu kaufen und selbst zuzubereiten, kostet viel Zeit und Geld.

Doch während das für Influencer zu ihrer Arbeit gehört, müssen deren Follower diese Zeit zusätzlich aufbringen. Ein Influencer kann problemlos stundenlang auf dem Bio-Markt lustwandeln und danach in der Küche “exotisch-saubere” Gerichte zaubern, denn das ist ja Teil seines “Influencer-Jobs”.

Auf die meisten Follower trifft das allerdings nicht zu. Auch können es sich einige Follower finanziell nicht leisten, so clean zu essen. Denn “bio”, “super” und “ausgefallen” ist teurer als nullachtfünfzehn.

Das Lust- und Frustprinzip

Ich finde die Botschaft diverser “Clean Eating Influencer”, permanent und ausschließlich “kopfgesteuert” zu essen, ungesund und unrealistisch. Der Beweis dafür sind die vielen Unter- und Übergewichtigen und Essgestörten. So funktionieren wir einfach nicht. Wir haben Vorlieben, wir haben Gelüste.

Und wir haben einen Körper, zu dessen Aufgabe es gehört, unser Überleben zu sichern. Deshalb ist er im Erstfall “(willens)stärker” als unser Kopf. Warum also nicht gleich auf ihn hören und mit ihm zusammenarbeiten, anstatt ihn als den ewigen Feind zu sehen, der unserer Traumfigur und unserem Traumleben im Weg steht?

Vor einigen Jahren überredete mich mein Mann dazu, zwischen den Jahren eine Saftkur mit ihm zu machen. Wir kauften also für sehr viel Geld sehr cleane Säfte. Und dann gab es fünf Tage lang jeden Tag fünf Flaschen Saft. Das Zeug war wirklich lecker, doch spätestens ab Tag vier hatte ich einfach keine Lust mehr auf die Plörre. Und ich spürte eine regelrecht körperliche Abneigung – kurz vor dem Ekel. Diese Erfahrung kam mir sofort in den Sinn, als ich all diese “Influencer-Säfte” in “Apple Cider Vinegar” sah.

Abgesehen davon, dass es nichts zu kauen gab, waren die Säfte zu eintönig und langweilig. Und obwohl ich sie eigentlich geschmacklich mochte, hingen mir die Säfte in der Masse und Ausschließlichkeit relativ schnell zum Hals raus. Nach den fünf Tagen war mein Fazit: “Danke, aber nein, danke.”

Für mich gehören Genuss und Gelüste genauso wie Experimentierfreude und Abwechselung zum Essen – und zum Leben – dazu. Und dieser Faktor bleibt meiner Meinung nach zu häufig unberücksichtigt oder wird von einem Influencer – wie auch im Fall von Belle Gibson – einfach nicht gezeigt.

Es sind nicht unsere Gelüste, die uns frustrieren.

Es ist die Annahme, dass wir keine haben sollten.

Der wichtigste Influencer

In unsicheren Frauen mit einem geringen Selbstwertgefühl steckt der (unbewusste) Wunsch, durch Perfektion endlich das zu bekommen, wonach sie schon ein Leben lang hungern: mehr Anerkennung und Aufmerksamkeit. Und davon versprechen sie sich mehr Selbstsicherheit und ein besseres Selbstwertgefühl. Solche Frauen sind schnell bereit, einem scheinbar perfekten Influencer zu folgen, der genau das zu haben scheint.

Doch der wichtigste Influencer in unserem Leben sind wir selbst. Wenn wir uns mehr Anerkennung und Aufmerksamkeit schenken, werden wir selbstsicherer und selbstbewusster. Darin liegt unsere eigentliche Herausforderung, eine Aufgabe, die uns kein Influencer abnehmen kann.

Und die Moral von Influencer Geschichten?

Extreme Geschichten und Konzepte verkaufen sich gut, haben aber oft einen bitteren Beigeschmack, weil sie nicht realistisch umsetzbar sind, nicht alles zeigen und/oder schlicht und ergreifend erstunken und erlogen sind.

Mind your influencer.

MindMuse Simone

Welche “Influencer-Erfahrungen” hast du bisher gemacht und wie stehst du generell zur “Influencer-Kultur”?

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