Die achtzigste Geschichte (d)einer Essstörung
Eine weitere mutige Frau, die ihre Geschichte mit uns teilt:
Ich werde in sechs Monaten 40 Jahre alt. Meine Probleme mit dem Essen begannen als ich ca. 12 Jahre alt war. Mein Kampf dauert nun also bald 28 Jahre. 28 Jahre sind eine verdammt lange Zeit und ich könnte heulen, wenn ich daran denke, wieviel Kraft mich dieser Kampf gekostet hat, wieviel Lebsqualität ich eingebüßt habe.
Ich möchte nicht mehr kämpfen. Ich möchte einfach leben und mich selbst akzeptieren, so wie ich bin. Mit meinen vermeintlichen Fehlern, mit den Fettpölsterchen, den Besenreißern, den Spuren, die jahrelange Gewichtszu- und -abnahme und zwei Schwangerschaften hinterlassen haben, mit meiner Wut, mit meiner Trauer, mit allem, was ich bin.
Das Leben ist so schön und bietet so viel mehr als es die vermeintliche Top-Figur verspricht.
Es ist eine Illusion zu glauben, alles wäre toll und einfach und rosarot, wenn wir nur schlank wären. Woher ich das weiß? Ich hatte ein paar Mal in meinem Leben mein Idealgewicht. Ich war schlank, aber fühlte mich fett und hatte weiterhin Zwangsgedanken rund um Essen und Gewicht und konnte mich selbst nicht leiden.
Falls jemand eine Einordnung meiner Esstörung braucht: Orthorexie, gepaart mit Binge Eating und ein paar bulimischen Aspekten (Sport als Kompensation für Essanfälle).
Wie alles begann…
Als ich ca. 12 Jahre alt war, begann ich mich mit anderen Mädchen, meinen Freundinnen, zu vergleichen und fühlte mich zu dick. Dick war ich keineswegs, aber es gab halt ein paar Rundungen, die die Pubertät und die Entwicklung zur Frau mit sich bringen. Ich fing an zu joggen, ließ das Frühstück aus, aß weniger, wurde dazu zur Vegetarierin und nahm ein paar Kilos ab. Der Einstieg in meine Essstörung. Zunächst gab es Komplimente von Lehrerinnen, meinen Eltern. Ich fühlte mich weiterhin zu dick, wurde zwanghafter.
Stationen…
Mit ca. 15 Jahren war ich zutiefst unglücklich in meiner Familie. Meine Mutter hatte ein Alkoholproblem, das sie negierte, mein Bruder zog sich sehr zurück, mein Vater ging permanent fremd, Konflikte wurden unter den Tisch gekehrt, offen gesprochen wurde nicht. Und ich fing an zu essen. Heimlich. Fressattacken. Vor allem Süßigkeiten.
Ich stahl die Dinge aus der Küche, kaufte sie von meinem Taschengeld, versteckte den Abfall und ich schämte mich sehr. Um die Essattacken auszugleichen, machte ich weiter Sport, dann gab ich auf und nahm schnell sehr viel zu. Meine Freundin erzählte, dass eine Lehrerin eine Gruppe für Essgestörte gründen wollte und ob wir (sie hatte Bulimie) nicht auch daran teilnehmen sollten.
Ich? Essgestört? Ich hatte doch keine Essstörung! Ich war nicht magersüchtig und nicht bulimisch. Dass es noch andere Formen von Essstörungen gibt, wusste ich damals nicht.
Ich hasste meinen fetten Körper so sehr, dass ich versuchte, die Essanfälle durch kotzen zu kompensieren. Doch das funktionierte nicht bei mir. Zum Glück, kann man da nur sagen. Denn sonst wäre ich in eine Bulimie gerutscht.
Ich nahm weiter zu.
Meine Mutter machte eine Diät und sagte, dass ich mitmachen müsse, da es so nicht weiterginge. Beim Abendessen wurde ich daraufhingewiesen, dass es ja nun wirklich genug sei. Und die heimlichen Essattacken wurden noch schlimmer. Ich kämmte meine Haare nicht mehr, zog mich nicht mehr schön an. Mein Selbsthass wurde sichtbar nach außen. Und ich baute Mauern aus Fett um mich herum. Mit ca. 18 Jahren traute ich mich seit Jahren auf die Waage und war geschockt. Ich setzte mir ein Zielgewicht, dem ich bis heute hinterherrenne.
Ich fing wieder an, abzunehmen und machte verbissen und zwanghaft Sport, nahm ab, bekam wieder Komplimente, aber fühlte mich weiter zu dick. Dann ging ich weg zum Studium und hatte die Illusion, dass alles gut würde, da ich ja meine Ursprungsfamilie und die Probleme hinter mir ließ. Ein Trugschluss, denn ich nahm mich ja selbst mit. Alleine in meiner Wohnung gab es auch wieder Fressattacken. Teilweise war mein Kühlschrank komplett leer, damit ich nichts essen konnte. Ich versuchte, mich von Kaffee und Zigaretten zu „ernähren“.
Doch wenn der Fressdruck zu groß wurde, dann kochte ich mir mitunter eine Packung Nudeln und aß sie mit Butter und Salz, das einzige, was im Haus war, schlang ich in mich hinein, aber die Leere in mir wurde nie gestillt. Oder ich ging vorsätzlich einkaufen. Plante den Essanfall schon, Berge an Süßigkeiten, die ich mir sonst strikt verbot. Es war ein auf und ab. Fressen und zunehmen, Diät halten, hungern, abnehmen, dann wieder Essattacken, starke Gewichtsschwankungen. Und immer präsent war der Selbsthass.
Es gab Phasen mit Alkoholexzessen, unzählige One-Night-Stands auf der Suche nach Liebe und Geborgenheit, die ich nicht fand, Versuche mit Drogen, Zigaretten, durchgemachte Nächte, Probleme im Studium. Ich gin zu einer psychologischen Beratungsstelle, sprach erstmals über meine Schwierigkeiten. Das war erleichternd, hat mich voran gebracht, doch die Esstörung blieb. Dann ging ich ins Ausland, aber auch da kam die Essstörung mit. Zurück aus dem Ausland wechselte ich die Uni und brach schließlich mein Studium ab. Da saß ich nun, dick und ohne Plan. Die Eltern machten Druck, obwohl sie gleichzeitig Verständnis zeigten.
Ich war ganz weit unten.
Dann schließlich wusste ich, was ich wollte. Im sozialen Bereich arbeiten. Wollte Sozialpädagogik studieren und machte mein Praktikum ausgerechnet in einer Beratungsstelle für Essstörungen. Anschließend hatte ich noch Zeit bis zum Beginn des Studiums in einer neuen Stadt. Ich jobbte, genoss den Sommer, machte Diät und Sport und wurde so schlank wie noch nie. Ich dachte, ich hätte es geschafft, doch weit gefehlt. Denn schlank sein löste auch nicht mein Problem. Mein Selbstwertgefühl war immer noch ganz klein.
Ich begann mein Studium der Sozialpädagogik und zog es verbissen durch, denn ich hatte das Gefühl, schon so viel Zeit verschwendet zu haben (ich war 24 zu Studienbeginn). Die Essstörung kehrte wieder, ich machte immer wieder Diäten, exzessiv Sport (bis zu 6 Mal Krafttraining plus joggen in der Woche), dann wieder Essanfälle. Schließlich kam ich an einen Punkt, an dem ich nicht mehr konnte.
Ich musste mich krank melden bei meinem Nebenjob und suchte mir therapeutische Hilfe. Eine neue Diagnose, Depressionen, ich nahm zusätzlich Antidepressiva. Die tiefenpsychologisch orientierte Therapie brach ich schließlich ab. Mein Studium brachte ich zu Ende mit 29 Jahren, fand einen Job in der Erwachsenenpsychiatrie, machte Karriere, Führungsposition, Stress mit dem ich nicht umgehen konnte. Migräne mit neurologischen Ausfallerscheinungen, weiterhin Antidepressiva, die ich mal nahm, dann wieder absetzte.
Dann gab es schließlich eine Phase 2010, in der ich mit mir und der Welt im Reinen war. Ich machte Sport, trainierte für einen Halbmarathon, fühlte mich in meinem Körper wohl und ich wollte keine Affären mehr. Ich wollte eine stabile Beziehung, hatte endlich keine Angst mehr davor, verletzt zu werden. Ich lernte meinen jetzigen Mann kennen und alles schien gut. Doch es gab auch immer wieder depressive Schübe, heimliches essen von Süßigkeiten, wenn auch nicht mehr so extrem wie früher.
Ich war schon lange nicht mehr übergewichtig, aber ein bisschen zu dick fühlte ich mich immer noch. Wegen der Depressionen war ich zum Teil im Job krank geschrieben, ein weiteres Psychopharmakum wurde mir verschrieben, das mich völlig umhaute. Ich setze es sofort wieder ab.
Dann der Wendepunkt. Ich wurde schwanger.
Ich setzte das Antidepressivum ab und es ging mir gut in der Schwangerschaft. Doch ich sah die Schwangerschaft auch als Ausrede, viel essen zu können und nahm recht viel zu. Nach der Geburt meines ersten Sohnes machte ich wieder Diät, schlank im Schlaf, verbissen, und ich nahm ab bis zu meinem „magischen“ Zielgewicht. Und war so stolz. Dann fing ich nach 12 Monaten Elternzeit wieder an zu arbeiten, zurück in meine Führungsposition, aber in Teilzeit und nichts war am Arbeitsplatz wie vorher.
Zusätzlich hatten wir ein Haus gekauft und lebten auf der Baustelle mit Kleinkind. Ich dachte, ich könnte alles schaffen. Miss Perfect. Chefin in Teilzeit, die Ansprüche meiner Mitarbeiter erfüllen, die meiner Vorgesetzen, dann zu Hause das Kind übernehmen, damit mein Mann das Haus renovieren konnte, Haushalt schmeißen und abends und am Wochenende mit anpacken beim Umbau. Achso? Das kann man doch nicht schaffen? Ich dachte, ich könnte es. Fazit: Nach drei Monaten konnte ich nicht mehr.
Meine Psychiaterin schrieb mich krank, wieder Antidepressiva, aber ich muss doch gesund werden und arbeiten. Was ist mit den Mitarbeitern? Den Klienten? Nach 5 Wochen wieder zurück auf die Arbeit. Nach 3 Tagen saß ich zitternd am Frühstückstisch, habe geheult, ich kann nicht. Wieder eine Krankschreibung. Ich suchte mir erneut therapeutische Hilfe, einen Verhaltenstherapeuten, der knallhart war. Bei dem musste ich richtig an mir ackern. Aber es half. Ich entschloss mich, meine Elternzeit zu verlängern und konnte mich darauf konzentrieren, wieder gesund zu werden.
Ca. ein Jahr später ging es mir wieder gut.
Ich brauchte eine neue Aufgabe, hatte aber Angst, an meinen alten Arbeitsplatz zurückzugehen. Es fühlte sich nach Scheitern an, ich hatte es nicht geschafft, ich schämte mich, hatte das Gefühl, ich hätte meine Mitarbeiter im Regen stehen gelassen. So schrieb ich Bewerbungen und hatte zwei Vorstellungsgespräche, gleichzeitig ließen wir der Natur ihren Lauf. Ich wurde schnell schwanger, also erstmal kein neuer Job, aber ein zweites Kind. Mein zweiter Sohn wurde geboren. Und nur 5 Wochen nach der Geburt beschloss ich, die Schwangerschaftskilos müssen weg. Ich war sehr konsequent. Keine Diät mehr, sondern gesund essen, wenn ich hungrig bin, aufhören, wenn ich satt bin. Klang gut und vernünftig.
Ich las Bücher zu den Themen „Natürlich schlank“ und „emotionales Essen“, meldete mich in einem Abnehm-Forum an, fand Gleichgesinnte und nahm ab. Unterschritt mein magisches Zielgewicht sogar knapp. Und wieder dachte ich, ich hätte es geschafft. Jetzt „nur“ noch halten. Doch es gab im Forum Frauen, die waren „besser“ als ich. Disziplinierter. Noch konsequenter. Und dann setzte mir mein Bruder einen Floh ins Ohr. Dass ich doch jetzt auch noch die nächste Gewichtsgrenze knacken könne. Und der Zwang war wieder vollkommen da. Die Waage bestimmte, ob ich mich gut oder schlecht fühlte, jeder noch so kleine Bissen ohne Hungergefühl löste Schuldgefühle aus, ich zwang mich zum Sport, selbst wenn ich müde und erschöpft vom Alltag mit zwei Kleinkindern war.
Meine Gedanken kreisten zu 75 Prozent des Tages um Essen, Essensplanung, kochen, Gewicht, Sport. Ich probierte mich durch vegane und zuckerfreie Phasen, alles musste ganz gesund sein. Ich kochte zum Teil drei unterschiedliche Mahlzeiten. Eine für mich, eine für das Breikind und eine für meinen Mann und den älteren Sohn. Noch dazu musste ich achtsam essen, d.h. das Essen genießen, in Ruhe essen und es sollte auch noch gemeinsam gegessen werden. Was für ein Stress.
Und nichts anderes als eine Diät unter dem Deckmantel des gesunden Essens.
Dann kamen die Essanfälle wieder. Und ich stopfte mich heimlich mit allem voll, was ich mir zuvor versagt hatte. Und ich nahm wieder zu. Zusätzlich hatte ich jetzt noch eine Komponente: Ich verurteilte mich dafür, dass ich mich überaß, wo ich doch eigentlich wusste, woran es lag (Emotionen) und wie es anders ging (mich entspannen, nein sagen). Und ich schämte mich dafür, es wieder einmal nicht geschafft zu haben, mein Gewicht zu halten.
Wie geht es mir heute?
Ich bin müde. Ich möchte nicht mehr. Ich möchte mich nicht mehr anstrengen. Ich möchte am liebsten aufgeben. Ich möchte frei sein vom zwanghaften Essen. Ich versuche es immer wieder. Dann esse ich ein paar Tage gesund und entsprechend meinem Hunger, kann mitunter auch ein Stück Kuchen ohne schlechtes Gewissen genießen und dann habe ich doch wieder einen Essanfall. Und dann kommt da wieder diese Stimme: Du musst nur noch ein einziges Mal abnehmen, das schaffst du, hast du schon so oft geschafft und diesmal gelingt es dir auch, dein Gewicht zu halten und dann schaffst du es, dich selbst zu lieben.
Aber das ist alles Quatsch. Ich muss jetzt anfangen, mich zu lieben. So wie ich bin. Wieso ist das so schwer? Mein Mann liebt mich doch auch so, wie ich bin. Egal ob mit 10 Kilo mehr oder weniger. Und meinen Söhne wissen noch nichtmal, was Gewicht überhaupt ist. Doch wenn ich in den Spiegel sehe, sehe ich (meistens) nur das Fett, zum Teil beschimpfe ich mich als „fette Kuh“, „ekelhaft“, „widerlich“.
Ich empfinde mein Leben mit zwei kleinen Kindern und Berufstätigkeit als sehr anstrengend im Moment. Hinzu kommen der Perfektionismus und die starken Antreiber in mir. Du musst, noch mehr, noch höher, noch schneller, noch besser. Ich treibe mich an, ich beschimpfe mich, obwohl ich längst nicht mehr kann. Und dann werde ich wütend. Explodiere wegen Kleinigkeiten, schreie meine Kinder an, wünsche manchmal, ich hätte sie nie bekommen und verurteile mich selbst für diese Gedanken.
Und dann breche ich wieder heulend zusammen, verkrieche mich und mein Mann muss sich dann kümmern, weil ich nicht mehr kann. Eigentlich müsste ich sagen, ich brauche eine Auszeit, bevor ich zusammenbreche. Ich brauche Ruhe und Entspannung. Aber ich weiß gar nicht wie das gehen soll mit der Entspannung. Entweder ich mache Sport (und denke dann gleich wieder ans abnehmen) oder ich surfe im Netz zum Thema Essstörungen, lese Ratgeber und Selbsthilfebücher. Und habe doch das Gefühl, ich drehe mich nur im Kreis.
Jetzt habe ich den „zweiten Gang“ des Selbsthilfeprogramms LEICHTER begonnen und bemerke bereits positive Veränderungen. Vieles davon kannte ich schon aus Therapien, Büchern, eigenen Erfahrungen, aber die Kombination aus Theorie und praktischen Übungen und v.a. die Aufteilung in mehrere „Gänge“ helfen mir sehr. Ich habe das Gefühl, es ist Arbeit und anstrengend, aber es ist kein Kampf mehr gegen mich selbst, den ich nur verlieren kann.
Dafür schon einmal an dieser Stelle, danke Simone.
Wo findest du dich in dieser Geschichte wieder und was nimmst du daraus mit?
Das Aufschreiben und Veröffentlichen deiner eigenen Geschichte hilft dir und anderen!
Schicke mir die Geschichte deiner Essstörung an info@lebenshungrig.de, ich veröffentliche sie anonym.
lebenshungrige Grüße
Simone