Die sechsundsiebzigste Geschichte (d)einer Essstörung

Eine weitere mutige Frau, die ihre Geschichte mit uns teilt:

So here we are, meine Geschichte. Ich bin 18 Jahre alt. Meine erste Diät machte ich mit erst 8 Jahren. Schon damals hatte ich das Gefühl, dass mich Zahlen definieren. Unsere Waage war aus irgendeinem Grund auf Pounds umgestellt, und so hatte ich – pi mal Daumen – das Doppelte meines eigentlichen Gewichts auf der Waage stehen.

Ich fühlte mich furchtbar, und obwohl ich zu dem Zeitpunkt leicht untergewichtig war (schnelles Wachstum usw.), hatte ich damals das Gefühl, dass die Waage nicht lügen kann. Ich war, meiner Meinung nach, offiziell dick und musste was dagegen unternehmen.

So ging es in den nächsten Jahren immer weiter und weiter. Aber in den meisten Phasen war ich vollkommen okay, habe mir wenig Gedanken darüber gemacht was ich essen soll, und was lieber nicht.
Mit 13 Jahren eskalierte es jedoch. Meine Mutter litt unter Magersucht und hat immer mehr und mehr abgenommen. Zu diesem Zeitpunkt war ich leicht übergewichtig. Meine Mutter war unheimlich stolz auf ihren Gewichtsverlust und posierte förmlich vor mir und meinem Vater mit ihren Knochen. Mein Vater gefiel wie meine Mutter aussah, und fing eines Tages damit an, mir zu sagen ich sei fett. Ich solle meine Mutter anschauen, die so unglaublich schön dünn (unglaublich krank) aussah, und so soll doch eine Frau aussehen. (Welch Lüge…)

Meine Eltern und ich hatten nie ein gutes Verhältnis, ich wurde über Jahre hinweg misshandelt und unterdrückt, aber dies ist eine andere Geschichte.

Auf jeden Fall fiel mir auf, wie viel Anerkennung, wie viel Liebe, meine Mutter durch ihren Gewichtsverlust von meinem Vater erhielt. Und dies wollte ich auch. Ich wollte nicht mehr eingesperrt werden, erniedrigt, beleidigt und geschlagen werden, ich wollte von meinem Vater hören:”Wow, schau wie du abgenommen hast, ich bin so stolz auf dich!” Fataler Fehler meinerseits, dass ich dachte, dies würde jemals eintreffen.

An diesem Abend saß ich in meinem Zimmer und aß meine Lieblingssüßigkeiten, plötzlich schoss eine Stimme in meinem Kopf, die förmlich schrie. Sie schrie, wie dumm und fett ich doch sei, dass ich – obwohl ich doch die Liebe und Anerkennung meines Vaters möchte – so etwas meinem Körper zuführe. Also ging ich das erste Mal in meinem Leben aufs WC, und ließ das Essen verschwinden. Der Anfang von meinem Teufelskreis.

So gingen die Monate vorbei, in denen ich kaum aß, und wenn, erbrach. Ich verlor unglaublich viel Gewicht, und eh ich überhaupt schauen konnte, war ich untergewichtig. Es fiel jedem auf, jedem, außer meinen Eltern. Ich war gezwungen heimlich ins Krankenhaus zu gehen, um mir Kaliuminfusionen geben zu lassen, war heimlich in Essstörungsambulanzen um mich wiegen zu lassen. Denn eigentlich wollte ich das alles nicht. Ich hab gemerkt wie krank ich wurde und wie jeder Bissen zur Qual wurde. Die schlaflosen Nächte und das Zittern vor Kälte im Sommer. Das wollte ich nicht. Ich machte das doch alles nur aus Liebe zu meinem Vater, um zu hören: “So gefällst du uns!” Doch sie trugen ihre Brille weiter und sahen nicht, wie krank ich geworden war.

Bis heute habe ich diesen Satz nie gehört…

Eines Tages bin ich bei einem Schulfest kollabiert und wurde ins Krankenhaus gebracht. Dort bin ich für sieben Monate geblieben. Aber zurück zu meinen Eltern kam ich nie wieder. Das Jugendamt wurde vom Krankenhaus alarmiert und fand heraus was alles falsch lief. Ich kam in eine wunderbare Betreuung, die mir – um es ganz arg auszudrücken-  den Arsch gerettet haben. Ja, ich hatte meine Rückfälle. Ja, die ein oder andere Kaliuminfusion war in den letzten Jahren noch dabei. ABER, ich bin ich. Ich bin seit fast drei Jahren gewichtsstabil, verletze mich nicht mehr, geh mit Freunden essen und trinken, ohne danach zu weinen.

Ich schaffe es eine Beziehung zu führen. Und ich bin stolz. Vier Wörter, für die ich hart kämpfen musste, aber es zahlte sich unglaublich aus. Was ich mit meiner Geschichte sagen will: Egal wie aussichtlos eine Situation scheint, es gibt einen Ausweg. Damals mit 14, dachte ich nie, dass ich aus diesem Teufelskreis entkomme. Ich hatte mich damit abgefunden, dass die Essstörung nunmal ein Teil von mir ist. Aber das ist nicht wahr.

Ich habe die Essstörung, die Essstörung hat mich nicht.

Natürlich hat sie mich geprägt, die Zahlen, die Ängste, sie werden immer wieder kommen, aber sie sind mir bekannt. Und genau dazu habe ich einmal ein Gedicht geschrieben. Glaube an dich, glaube an deine Stärken, an deinen Mut, an deine Kraft. Du bist stärker, du hast das Recht zu leben, schlichtweg weil wir es alle wert sind, uns selbst zu lieben, weil wir es uns wert sind:

In den tiefen unserer Seelen befindet sich ein schweres Gewicht,
welches uns runterzieht, und wir verstehen es nicht.
In den tiefen unserer Seelen, versteckt sich ein loderndes Licht,
wird es verdrängt vom erdrückenden Gewicht?
Ganz unten in meinem Bewusstsein, sind Stimmen, so schrill, so laut.
Ihr kennt sie doch alle, doch habt ihr sie durchschaut?
Ganz unten in meinem Bewusstsein, sind Stimmen, so verachtend, so laut.
Ihr könnt es nicht verleugnen, diese Stimmen sind euch doch auch vertraut.
Manchmal möchte ich schreien, mich befreien,
alleine und doch geborgen sein.
Ich bin zerissen, und doch bin ich eins.
Hab ein schlechtes Gewissen, und gleichzeitig keins.
Ich möchte mich fliegen, und ich möchte mich fallen sehen,
möchte ich mich, oder doch die Welt verstehen?
Ich verliere die Kontrolle, doch sie hat mich im Griff,
sehe mich stabil, doch dann kentert das Schiff.
Stimmen, so beengend, und doch so befreiend.
“Hör auf zu strampeln, du bist doch dein eigener Feind.
Lass dich doch fallen, mit deinem schweren Gewicht,
ist nur deine Welt, die hier zusammenbricht.”
Plötzlich setzt eine Stimme ein,
sie klingt so stark, aber in der Farbe sehr fein.
“Vielleicht beginnst du aus dem Gewicht etwas Schönes zu bauen?
Akzeptieren zu leben und vor allem dir selbst zu vertrauen?”
Ich entscheide mich zu schwimmen und zu strampeln, bis ich das Ufer sehen kann.
Der Weg scheint erdrückend und ewig lang.
Doch dem Ziel werde ich jeden Tag näher sein.
Manchmal fordert mich ein Gewitter, um belohnt zu werden mit Sonnenschein.
In den tiefen unserer Seelen befindet sich ein schweres Gewicht,
es kann erdrückend sein, aber auch die Brücke zum Licht.
Tief in meinem Bewusstsein, sind Stimmen so stark, so laut.
Doch sie können mich nicht besiegen, sie sind mir ja vertraut.

Wo findest du dich in dieser Geschichte wieder und was nimmst du daraus mit?

Das Aufschreiben und Veröffentlichen deiner eigenen Geschichte hilft dir und anderen!

Schicke mir die Geschichte deiner Essstörung an info@lebenshungrig.de, ich veröffentliche sie anonym.

lebenshungrige Grüße

Simone