Morgens, wenn du wach wirst, und deine Gedanken noch im Halbschlaf versunken sind, fängt dein Gehirn plötzlich an zu rattern.

Es versucht, anhand der Befindlichkeit deines Körpers festzustellen, ob der gestrige Tag ein guter war.

Sehr schnell bleibt es an dem aufgedunsenen Gesicht und dem schlechten Geschmack im Mund hängen. Deine Hoffnung sinkt. Spätestens bei den leichten Schmerzen in Hals- und Magengegend erkennt es, das gestern kein guter Tag war: Du hast gestern definitiv Unmengen von Essen in dich reingeschaufelt und deinen Magen von den Qualen des Vollgestopftseins über der Toilettenschüssel erlöst. Und du hast diesen körperlich und seelisch grausamen Vorgang mehrmals wiederholt. Du musstest das einfach tun.

Nachdem diese Tatsache gänzlich in dein Bewusstsein gedrungen ist, wünschst du dir die Nacht und das Unwissen zurück.

Allerdings bist du sehr pflichtbewusst und leistungsorientiert. Daher stehst du langsam auf, denn dein Kreislauf ist nicht (mehr) der beste. Du ziehst dich sorgsam an, gehst ins Bad und fürchtest die Realität des Spiegelbildes. Die Spuren des gestrigen Tages bekämpfst du mit einer Menge kalten Wassers und durch das gekonnte Herrichten deines Gesichts, du bist Meister dieses Fachs.

Denn deine größte Angst ist, dass irgendjemand da Draußen erkennen könnte, welche perverse Praktik du immer und immer wieder betreiben musst, obwohl du dir nichts inniger wünschst, als damit aufzuhören.

Auf dem Weg zur Uni blickst du kontinuierlich nach unten; du möchtest nicht erkannt werden, denn du weißt selbst nicht genau, wer du bist. Die frische Luft und die Sonnenstrahlen bringt langsam ein wenig Leben in dein Dasein und drängen die düsteren Gedanken in den Hintergrund. Du schöpfst etwas Hoffnung.

Heute wird ein besserer Tag. Heute wirst du es schaffen.

Heute wirst du endlich eine Diät beginnen, die dir das lang ersehnte Wunschgewicht herbeibringen wird. Und natürlich wirst du heute diszipliniert essen, dich an deinen Plan halten und die Toilette nur zu ihrem eigentlichen Zweck aufsuchen.

Im Hörsaal angekommen, suchst du dir schnell einen Platz, denn auch hier möchtest du am liebsten unsichtbar sein. Die Vorlesung beginnt und sie beginnt schnell, dich zu langweilen. Deine Gedanken schweifen ab und du fragst dich wohl schon zum hundertsten Mal, wie du ausgerechnet hier gelandet bist.

Du denkst darüber nach, einfach wieder nach Hause zu gehen, aber dein Pflichtbewusstsein lässt dich durchhalten. Trotzdem kannst du deine Gedanken nicht kontrollieren, quälst dich langsam durch die sinnlose Theorie. Dabei träumst du von Abenteuer und Freiheit und fragst dich, wie dies zu deinem anerzogenen Sicherheitsdenken passen soll.

Die Pflicht ist vorbei, deine Leidensgenossen stürmen lärmend und fröhlich in Richtung Mensa. Du isst nur sehr selten in Gegenwart anderer. Du fühlst dich nicht zugehörig, kennst den Einen oder Anderen nur flüchtig und beneidest sie, obwohl du sie kaum kennst. Sicher hat keiner von ihnen solch ein dunkles Geheimnis wie du…

Auf dem Weg nach Hause denkst du voller Abneigung an die einsamen Stunden mit deinen Büchern, die dich jetzt erwarten. Wie gerne wärst du jetzt an einem anderen Ort, zu einer anderen Zeit, ein anderer Mensch, erfolgreich, von Allen bewundert, geistreich und schön, mit dem perfekten Körper.

Wie gerne wärst du frei.

Frei von jeglichen Konventionen und Zwängen, frei von den Erwartungen die du und Andere an dich stellen. Wut und Hoffnungslosigkeit beginnen dich zu überschwemmen; du hasst dein Leben und du hasst dich selbst. Du verurteilst dich für deine fehlende Willenskraft, du schämst dich für dass, was du deinem Körper antust und hast Angst vor den wohlbekannten Konsequenzen. Alles wird dir zu viel und du suchst nach einem Ausweg für deine Gedanken, eine Unterbrechung, einen Ruhepunkt.

Wie von selbst zieht dich plötzlich der nahe liegende Supermarkt an.

Er verspricht dir wärmendes, beruhigendes Essen. Das Essen gibt dir eine Entschuldigung; wenn du isst, kannst du nicht lernen. Das Essen verspricht dir Vergessenkönnen, einige verschenkte Stunden vor den geist- und sinnlosen Talk-Shows des Fernsehens, Junk-Food und Junk-TV. Nur noch einmal musst du es dir erlauben, den seelischen Schmerz in einen körperlichen umzuwandeln und die kurze Erleichterung der Entladung über der gefürchteten Toilettenschüssel zu spüren. Nur noch einmal, morgen wird sicher alles anders, morgen wirst du ein besserer Mensch, änderst dich und dein Leben, morgen…

Morgen, wenn du wach wirst, wirst du dir wünschen, dass gestern alles anders gewesen wäre…

Übrigens gibt es den Text (in leicht abgewandelter Form) auch als Video. Und es gibt den Text als Stummfilm.