Die siebenundsechzigste Geschichte (d)einer Essstörung

Eine weitere mutige Frau, die ihre Geschichte mit uns teilt:

Ich steuere auf die 40 zu, habe 3 wundervolle Kinder (5, 8 und 12) und einen tollen Mann und schäme mich dafür, dass ich wieder essgestört bin … aber ich will das ändern!

Ich will an mir arbeiten und mich lieb haben können so wie ich bin!

Die Essstörung schlich sich mit 15 Jahren ein (Glaubersalz-Kuren, Diäten, Abführmittel usw. dann extreme Bulimie) und war mein Begleiter bis ich ca. 22 Jahre alt wurde. In dieser Zeit waren ca. 2 Jahre dabei in denen ich auch noch Drogen ( alles außer Heroin & Crack )nahm.
Ich wollte, dass sich meine Eltern endlich um mich kümmern…, vergebens. Es lief sehr viel schief in meiner Kindheit und in meiner Familie. Das begriff ich aber erst sehr viel später. Ich bin mit dem Glaubenssatz aufgewachsen: Du bist nicht richtig und gut so wie du bist!!!

Mit 18 war ich drei Monate in der Klinik Roseneck, danach einige Monate in einer therapeutischen Wohngruppe in München. Therapie machte ich ständig ( TCM in München: Tagesklinik für Essgestörte, danach noch ein kurzer Aufenthalt in der Psychiatrie). Ständig war dieser Selbsthass da! Mit 22 wurde ich gesund, mein erstes Kind hat mich damals geheilt. Ich wurde schwanger und ich wollte nichts auf der Welt so sehr wie dieses Kind.

Plötzlich war die Essstörung weg. Ich mußte normal essen. Jetzt hatte ich ja die Verantwortung für dieses kleine Lebewesen. Auch dann hatte ich eine schwierige Zeit (ständig Probleme mit meinen Eltern und eine schreckliche Partnerschaft die im Frauenhaus endete). Aber ich war stark! Ich zog weit weg von meinen Eltern. Das Essen und meine Figur waren Nebensache, denn mein kleiner Sohn füllte meine innere Leere. Er mochte mich so wie ich war, ich mußte ihn einfach nur lieben und da sein. Es war ihm egal wie ich aussah oder welche Leistungen ich brachte. Er gab mir endlich Nestwärme und niemand konnte uns was anhaben.

Als mein Sohn 2 wurde lernte ich meinen Mann kennen. Mein Sohn ist wie sein eigenes Kind. Wir heirateten und bekamen noch zwei Mädchen. Als ich 29 war bauten wir neben meinen Eltern unser Haus. Das Verhältnis zu ihnen wurde sehr schlecht. Jetzt erst wurde mir vieles klar und ich war zurückversetzt in meine Kindheit.

Als ich 30 war belastete mich die Situation mit meinen Eltern so sehr, dass ich Depressionen und wieder Bulimie bekam. Wieder machte ich Therapie (mit einer sehr guten Therapeutin!). Ich habe Vieles verstanden und ihnen Vorwürfe gemacht. Es war für mich und meine jetzige Familie eine schwierige Zeit aber auch das haben wir gemeinsam geschafft.

Es gab einen großen Wendepunkt in meinem Leben: Ich trennte mich von meinen Eltern und von meinem Bruder. Ich habe seit ungefähr 3- 4 Jahren keinen Kontakt mehr zu ihnen (sie trennten sich und zogen weg). Das liest sich schrecklich aber für mich war und ist es das einzig Richtige. Ich habe mir selbst geholfen. Ich konnte endlich sagen und zeigen, dass ich mich nicht mehr ausnutzen und verletzen lasse. Nun bin ich nicht mehr das kleine, “dumme” immer liebe Kind, das ständig alles für ihre Eltern macht um Anerkennung und Liebe zu bekommen.

In meiner Therapie konnte ich viel Trauerarbeit leisten. Es dauerte ungefähr 3 Jahre bis es mir wieder besser ging ( In dieser Zeit brauchte ich aber wieder meine Bulimie). Meine Therapeutin kam leider mit mir und meiner Essstörung nicht weiter und empfahl mir eine Trauma-Therapie. Die neue Therapeutin konnte mir auch nicht weiterhelfen. Seit knapp 3 Jahren mache ich keine Therapie mehr. Ich dachte: “mir kann eh keiner helfen außer ich selbst”. Ich bin auch auf Vieles sehr stolz: Seit gut zweieinhalb Jahren habe ich mich nicht mehr übergeben. Ich habe es mit der Unterstützung meines Mannes geschafft, eine einjährige Fortbildung zu machen. Ich bin endlich wieder in meinem Beruf (vorher ging ich putzen) und natürlich bin ich auch auf meine drei tollen Kinder stolz.

Ich habe mir viele Bücher gekauft und wollte mich weiterhin selbst therapieren, aber das funktionierte nicht. Ich versuchte Ernährungsumstellungen (Glyx, Paleo, Low Carb etc.) und Fastenkuren. Es sollte am besten alles extrem gesund sein und basisch. Ich war und bin zwar froh dass ich mich nicht mehr übergebe, aber meine Essstörung hat sich einfach nur verändert und ich leide. Der extreme Selbsthass und das mangelnde Selbstwertgefühl ist noch da. Meine Gedanken kreisen ständig ums Essen und abnehmen. Fast jedes Essen und Trinken ist irgendwie schlecht und ich fühle mich mies weil ich es nicht schaffe (wie andere) mich und meine Familie gut zu ernähren.

Meine Gedanken bestehen nur noch aus Verboten, sehr wenig ist erlaubt. Dann habe ich immer wieder versucht, einfach zu essen wonach ich Lust habe. Während meiner Fortbildung habe ich dann regelrecht gefressen und 10 kg zugenommen. Der Ekel vor mir selbst ist natürlich noch größer geworden, einfach nur Horror. Ich hatte keine Zeit mehr für Sport und Essen ist für mich der absolute Stressabbau geworden.

An schlechten Tagen nasche ich einfach die ganze Zeit. Am schlimmsten ist es ab dem Mittagessen bis die Kinder abends im Bett sind. Ich bin ständig völlig kaputt, ausgelaugt, habe Angst davor noch mehr zuzunehmen. Ich bin müde, schütte mich mit Kaffee zu und muß mich meistens (wenn es geht ) nachmittags mal eine Stunde hinlegen (natürlich mit schlechtem Gewissen). Seit sechs Jahren versuche ich also wieder abzunehmen und dachte mir, wenn ich dünner bin, bin ich glücklicher.

Ich war davon so überzeugt, dass ich mir vor drei Wochen in Prag Fettabsaugen ließ. Mein Mann liebt mich so wie ich bin und war natürlich total dagegen. Alle waren total dagegen. Aber ich mußte es für mich tun. Ich wollte ja wieder glücklicher sein. Meine beste Freundin fragte mich noch ob ich wirklich glaube, dass dies der richtige Weg ist, mich endlich lieb zu haben. Ich dachte mir noch, “das weiß ich auch und nein da müßte man mir viel mehr wegschneiden, als nur ein bißchen Fettabsaugen damit ich mich lieb habe.” (Wie erschreckend hart sich das anhört).

Nach der OP wurde mir zwar klar, dass ich jetzt endlich was für meine Seele machen muß und will. Ich habe aber noch vor, mir die Brüste und meine Augenlider machen zu lassen (wobei ich jetzt erstmal rausfinden möchte ob ICH das wirklich will oder meine Essstörung). Als erstes will ich mich mal mögen, einfach nur weil ich ich bin, und auch mal keine Leistung bringe oder besonders toll aussehe.

Am meisten zerfrisst mich das schlechte Gewissen gegenüber meinen Kindern. Ich möchte so sehr dass sie glücklich sind! Ich habe Angst dass ich gerade für meine Töchter ein schlechtes Vorbild bin und sie auch mal so verkorkst werden wie ich…

Wo findest du dich in dieser Geschichte wieder und was nimmst du daraus mit?

Das Aufschreiben und Veröffentlichen deiner eigenen Geschichte hilft dir und anderen!

Schicke mir die Geschichte deiner Essstörung an info@lebenshungrig.de, ich veröffentliche sie anonym.

lebenshungrige Grüße

Simone