Wie “Systemanalyse” unser
Selbst nähren kann
“Dafür, dass du so unglaublich viel denkst, veröffentlichst du relativ wenige Artikel”, ist so ein Gedanke, der schon mehr als einmal durch meinen Mind gewandert ist. Und dahinter steckt natürlich die Erwartungshaltung, dass ich einen Großteil meiner Gedanken gefälligst zu richtig guten Blogposts zu verwursten habe.
Sehr schnell kann durch diese Erwartungshaltung ein neues Wunschbild entstehen. Ein Wunschbild, das vom Ur-Glaubenssatz “Ich bin nicht gut genug” genährt wird und diesen – sofern die Erwartungshaltung nicht entlarvt wird – gleichzeitig ernährt. Eine typische selbsterfüllende Prophezeiung also. (Ich glaube, ich bin falsch, und deshalb tue ich unbewusst alles dafür, mir mein Falschsein zu beweisen.) Denn wenn ich gut genug wäre, würde ich dieser Erwartungshaltung entsprechen können, oder?
Das ist natürlich Bullshit. Und wie alle Wunschbilder basiert es einerseits auf der Annahme, dass ich anders sein müsste, als ich bin. Und andererseits ist das dauerhafte Erreichen eines Wunschbilds unmöglich. Deshalb führen Wunschbilder lediglich dazu, dass wir uns weiterhin nicht gut genug fühlen und glauben, selbst schuld daran zu sein, weil es uns an Disziplin und Willenskraft fehlt. Das ewig gleiche (Denk)Muster einer unendlichen Geschichte.
What was I thinking?
Während der letzten Wochen und Monate habe ich sehr intensiv darüber nachgedacht, warum manche MindMates ihren Weg in die Unabhängigkeit gehen können und andere nicht. Und dabei habe ich mich immer mehr von den Begriffen “Heilung” und “Genesung” verabschiedet. Gleichzeitig haben die Begriffe “Unabhängigkeit” und “Freiheit” mehr Bedeutung gewonnen.
Grundsätzlich sind all das natürlich lediglich Wörter, die für jeden etwas anderes bedeuten können. Und Genesung, bzw. Heilung oder auch Selbstheilung bedeuteten für mich schon immer die Unabhängigkeit von den Systemen, die uns glauben gemacht haben, dass wir das Problem sind.
Das Problem liegt im System.
Diese Form der Unabhängigkeit bedeutet, dass wir die Funktionsweise sämtlicher Systeme verstehen, sehen, wie sie sich auf uns auswirken und frei entscheiden, wie wir damit umgehen wollen.
Mit “dem System” bzw. “den Systemen” meine ich übrigens keine verschwörungstheoretischen Gruppen, die im Geheimen agieren. Was ich meine sind Familiensysteme, Gesellschaftssysteme, Bildungssysteme, Glaubenssysteme, Finanzsysteme, Gesundheitssysteme usw. Systeme, die ineinader greifen und die ähnlich funktionieren. Aus Vereinfachungszwecken sage ich manchmal lediglich “das System”.
Jedes System besteht aus mehreren Individuen, die ein gemeinsames Interesse haben. Und unsere größte Herausforderung liegt in der Verinnerlichung, dass wir als Kinder von unserem Familiensystem abhängig gewesen sind und uns deshalb heute sehr schnell in Abhängigkeiten von anderen Systemen wiederfinden.
Und diese Abhängigkeit zeigt sich durch das immer gleiche Muster: Wir suchen die Fehler bei uns und nicht im System. Wir glauben, uns ändern zu müssen, um “systemgerecht” zu funktionieren und um uns besser fühlen zu können. Und das System bestätigt unseren Glauben.
Du bist nicht das Problem.
Doch wir sind nicht das Problem. Damit meine ich nicht, dass wir keine Fehler machen. Fehler zu machen ist völlig menschlich. Doch wir verhalten uns unmenschlich uns selbst gegenüber, wenn wir von uns erwarten, keine Fehler machen zu dürfen.
Warum tun wir das? Weil wir uns selbst für einen Fehler halten. Diese Grundannahme, die mit dem Ur-Glaubenssatz und seinem Zwilling, dem Ur-Schmerz, einhergeht, ist alles, worum es letztendlich geht.
Das System ist krank.
Mit den Begriffen “Heilung” und “Genesung” verbinden die meisten von uns automatisch, dass jemand krank sein muss und gesund werden will. Und dagegen entwickele ich immer mehr Widerstände. Denn dadurch wird auch suggeriert, dass diejenige mit den Symptomen auch das Problem ist.
Aber der Ursprung unserer psychosomatischen Erkrankungen liegt im System und nicht in uns selbst. Unabhängig zu werden bedeutet für mich, das zu wissen und deshalb die unendlichen Schuldgefühle hinter mir lassen zu können. Es bedeutet aber auch die Erkenntnis, dass sich die Systeme nicht für mich ändern werden und dass ich mich zum ewigen Opfer mache, wenn ich das erwarte.
Konkret heißt das beispielsweise: Nicht meine (Ursprungs)Familie muss mich verstehen, sondern lediglich ich selbst muss verstehen, wie meine “Ur-Problematik” in diesem System entstanden ist. Und dann muss ich in meinem Sinne handeln, ohne auf deren Erlaubnis, Genehmigung und/oder Verständnis zu warten oder zu hoffen.
Unabhängigkeit bedeutet aber auch die Erkenntnis, dass ich einige der Systeme, zu denen ich heute gehöre, durch meine emotionale und mentale Freiheit automatisch anders – oder auch gesünder – gestalte. Das heißt beispielsweise, dass meine Kinder “emotional und mental (schulden)freier” aufwachsen als ich.
Systemgesteuert
Lass uns beim Ursprung beginnen. Die meisten MindMates sind in einem Familiensystem aufgewachsen, in dem eine ähnliche Erwartungshaltung wie diese herrschte:
Sei fleißig, anpassungsfähig, brav, verständnisvoll, freundlich, anständig, fürsorglich und hübsch.
Oder anders gesagt:
Funktioniere so, wie wir es wollen und brauchen, entsprich unserem Bild des “perfekten Mädchens”, ansonsten wirst du durch Liebesentzug, Ignoranz, Gewalt und/oder Schuldzuweisungen bestraft.
Und jetzt lass uns zu meiner anfänglichen Erwartungshaltung zurückkommen und sie in eine neutrale Frage umformulieren: “Warum habe ich – als Vieldenkerin – meine Gedanken nicht besser verwertet und öfters Artikel geschrieben?” Oder auch:
Warum war ich nicht fleißig genug?
Meine Erwartungshaltung in Bezug auf meine Effizienz basiert also auf den Erwartungshaltungen meines Ursprungs-Systems. Und sie sind “systemübertragbar” und fördern unsere inneren Konflikte beispielsweise so:
System vs. Selbst
Das “System Online-Marketing” spricht wie folgt in meinem Mind: “Wenn du schon einen Artikel schreibst, dann muss der auch suchmaschinenoptimiert sein. Du musst dich an sämtliche Regeln halten, eine gewisse Wortanzahl erreichen, eine Keyphrase wählen, die du dann möglichst oft benutzt, externe und interne Links setzen, Bilder mit der Keyphrase einbinden etc.”
Und mein Selbst sagt dazu: “Das ist alles so aufwendig, umständlich und anstrengend, und ein bisschen manipulativ ist es irgendwie auch, kann ich nicht einfach meinen Gedanken schriftlich freien Lauf lassen?”
“Nein”, erwidert das System Online-Marketing in mir: “Wenn du das tust, wirst du bestraft. Denn die Suchmaschinen können deinen Artikel dann nicht einordnen und werden ihn niemandem vorschlagen. Deshalb wird keiner lesen, was du schreibst. Und daran bist du dann selbst schuld.
Dagegen kommt mein Selbst natürlich nicht an. Es hat nur noch eine Möglichkeit, das System nicht vollständig gewinnen zu lassen. Und das ist das Ziehen der “Trotz-und-Frust-Karte”. “Och nö, dann gibt es halt gar keinen Artikel.”
Dieser Dialog hat zigmal in mir stattgefunden. Und obwohl mir dieser Konflikt durchaus bewusst war, hat ihn mir das konkrete Aufschreiben nochmal viel deutlicher vor Augen geführt. Das ist es, was Schreiben bewirken kann. Einerseits können wir uns ausdrücken, und andererseits ist es eindrücklicher, als Gedanken “nur” zu denken.
Durch dieses Beispiel wird offensichtlich, dass wir uns immer am Ursprung orientieren können, wenn wir nicht weiterkommen. In diesem Fall an der Erwartungshaltung:
Sei fleißig (sonst wirst du bestraft).
Was auch immer das konkret bedeutet. Denn ab wann genau ist denn jemand fleißig oder faul?
Die systematische Macht der Masse
Und was mich wirklich amüsiert, ist folgende Tatsache: Durch die KI (Künstliche Intelligenz) wird die Suchmaschinenoptimierung immer unwichtiger. Schon während der letzten Jahre ist es enorm schwierig geworden, bei Suchanfragen auf der ersten Seite zu erscheinen. Und mittlerweile zeigt beispielsweise Google nicht mehr Werbung – also Artikel oder Annoncen, für die bezahlt wurde – und dann relevante Artikel an. Sondern Google hat eine KI, die direkt Ergebnisse auf Suchanfragen liefert.
Das bedeutet, dass die Wahrscheinlichkeit immer geringer wird, dass jemand über eine Suchmaschine meine Artikel findet. Und das gilt auch für die suchmaschinenoptimierten. Überspitzt gesagt: Vor zwölf Jahren brauchte Google meine Artikel noch, um Ergebnisse liefern zu können. Heute braucht Google meine Artikel nicht mehr.
Wer bestimmt die Regeln?
Als mir das klar geworden ist, hat es mich zunächst frustriert: “Ich habe versucht, mich an die Regeln (des Systems) zu halten, und dann werden plötzlich die Regeln geändert?” Und dann ist mir bewusst geworden, dass viele Systeme genauso funktionieren.
Nehmen wir mal die sozialen Medien. Denn da habe ich Ähnliches erlebt. Anfangs wurde um mich gebuhlt und das, was ich gepostet habe, bekam viel Aufmerksamkeit. Doch je mehr andere ebenfalls etwas posteten, desto weniger Aufmerksamkeit bekamen logischerwerweise meine Posts. Und dann wurde mal eben der Algorithmus – die Regeln – geändert und wieder war alles ganz anders.
Sobald die kritische Masse erreicht ist, hat das System Macht. Dann lässt es uns spüren: “Ich kann die Spielregeln ändern, wann und wie ich will. Entweder, du spielst mit, oder du lässt es (und wirst bestraft, woran du selbst schuld bist).”
Ich habe mich dazu entschlossen, nicht mehr mitzuspielen und die sozialen Medien zu verlassen. Denn sie tun mir weder als Produzent noch als Konsument gut. Und ich weiß, dass das vielen MindMates so geht.
Außerdem möchte ich in Bezug auf meine Arbeit so unabhängig und selbstbestimmt wie möglich sein. Wenn ich schon etwas veröffentliche, wofür mich niemand bezahlt, dann soll es wenigstens nach meinen eigenen Spielregeln passieren.
Das Problematische an Social Media ist außerdem, dass eine große Menge Menschen wenige Tech-Oligarchen sehr mächtig gemacht hat. Und denen geht es nicht um dich oder mich, sondern um das Optimieren ihrer (finanziellen) Systeme, die ihnen weitere Macht verleihen.
Unabhängigere Lösungen
Einerseits ist das frustrierend. Andererseits freut sich mein Selbst und “sagt”, durchaus mit einer gewissen Portion Selbstgefälligkeit, : “Siehst du, das hast du jetzt von deinem “systemgefälligen” Handeln. Lass mich endlich frei und unabhängig schreiben, denn das kann nur ich. Suchmaschinenoptimiert schreiben kann jede KI viel besser, und deshalb wird genau das immer irrelevanter.”
Und während ich schreibe, schiele ich immer mal wieder auf mein Analyse-Tool. Es zeigt anhand von Smileys an, wie “gut” mein Artikel in Bezug auf die Suchmaschinenoptimierung und wie “gut” lesbar er ist. Der Suchmaschinen-Smiley ist rot und hat heruntergezogene Mundwinkel. “Achtung, es drohen Schuldgefühle und Bestrafung”, scheint er mir mit imaginär erhobenem Zeigefinger mitteilen zu wollen.
Der Lesbarkeits-Smiley hingegen ist grün und lächelt. Er ist mir also wohlgesonnen. Schon wieder so ein Bewertungs-System. Und es ist nur semi-zufrieden mit mir.
“Na und?”, sagt mein Selbst rebellisch. Und das fühlt sich unfassbar gut an.
Mind the systems.
MindMuse Simone
Selbst nähren kann