Selbst Schuld, du Opfer!?!

Spätestens auf unserem Weg „Raus aus den (Ess)Problemen, rein ins Leben“ wird vielen von uns schmerzhaft bewusst, dass sich gewisse Situationen in unserem Leben mehrmals zu wiederholen scheinen. Vielleicht finden wir uns häufig in Beziehungen wieder, die uns eigentlich nicht wirklich gut tun. Oder wir haben immer wieder ähnliche Konflikte an diversen Arbeitsplätzen. Möglicherweise haben wir schon öfter Verrat, Betrug oder sogar Gewalt erlebt. Die Erkenntnis, dass wir diese Wiederholungen erleben, ist ein erster wichtiger Schritt. Und der zweite – entscheidende – Schritt ist, unsere eigene Rolle in diesem „Wiederholungs-Spiel“ zu erkennen um aussteigen zu können. Ganz wichtig ist, dass es hierbei nicht um Schuld geht. Du bist nicht daran Schuld, wenn dich jemand verrät, betrügt oder sogar misshandelt. Doch die Wahrscheinlichkeit ist sehr groß, dass du die Hilflosigkeit, in der du dich jetzt scheinbar befindest, in deiner Kindheit tatsächlich erlebt hast. Und diese früh erlebte Hilflosigkeit hat sich so auf deiner Festplatte eingebrannt, dass du auch als Erwachsene in die alte Opfer-Rolle zurückfällst, ohne dass es dir bewusst ist bzw. du das möchtest. Anders ausgedrückt: Jemand der in seiner Kindheit andere Erfahrungen gemacht hat, würde in der selben Situation anders handeln können! Doch wenn wir erst Mal unseren Anteil an diesen Situationen erkennen und verstehen – ohne uns zu verurteilen – können auch wir lernen, anders zu handeln und dadurch die Opfer-Haltung verlassen. Nochmal zur Erläuterung:

Befindest du dich in einer Situation, in der du dich nicht wehren kannst, bist du ein Opfer! Befindest du dich in einer Situation, in der du dich theoretisch wehren könntest, es aber praktisch (auf Grund früherer Erfahrungen) nicht kannst, befindest du dich in der Opfer-Rolle, bzw. -Haltung. Schuld bist du in beiden Fällen nicht!

Kennst du deine Grenzen?

Die meisten Frauen mit (Ess)Problemen kennen ihre Grenzen gar nicht mehr, oder können sie nicht halten, denn diese Grenzen wurden früher nicht beachtet. Vielleicht wolltest du als Kind irgendetwas nicht machen und man hat dich dazu gezwungen oder dich emotional erpresst und so dazu gebracht, gegen deinen Willen zu handeln. Und irgendwann hast du innerlich aufgegeben um durchzukommen. Denn du warst abhängig. Doch das bist du heute nicht mehr. Du verhältst dich jedoch – auf Grund dieser eingebrannten schmerzhaften Grenzverletzungen – häufig so. Wenn du wissen willst, wie gut du Grenzen setzen kannst, frage dich, wie überzeugend du NEIN „sagen“ kannst, wenn du NEIN meinst. Kürzlich war ich auf einem Seminar und dort ist mir noch mal eindrucksvoll vor Augen geführt worden, wie schwierig es sein kann, seine eigene „Opfer-Rolle“ zu erkennen. Eine andere Teilnehmerin, klein und zierlich, sollte dem Seminarleiter, einem stattlichen Kerl, durch ein NEIN eine Grenze setzten. Beide standen sich gegenüber und er ging auf sie zu. Unser Job war es, ihre Grenze zu spüren und zu schauen, ob er diese Grenze ebenfalls wahrnehmen und dann stehen bleiben würde. Er blickte sie an und schlenderte aufgerichtet los. Und sie sagte relativ leise „NEIN“. Das stoppte ihn nicht und je näher er kam, desto kleiner machte sie sich körperlich. Ihr NEIN klang immer verzweifelter und doch lächelte sie jedes Mal danach entschuldigend. Mir wurde glasklar vor Augen geführt, dass ich früher in vielen Situationen genau so NEIN sagte!

Nonverbale Kommunikation

Ein NEIN, dass das Gegenüber nicht ernst nahm, denn die Körpersprache vermittelte etwas anderes! Das Lächeln und der Klang ihrer Stimme „sagten“: Ich meine es nicht ganz so ernst, bitte finde mich trotzdem gut!“ und ihre Körperhaltung „sagte“: Du hast eh schon gewonnen, ich gebe auf!“ In Zahlen ausgedrückt bedeutet das  – beispielsweise nach einer Studie des Psychologen Mehrabian -,  dass nur etwa 7% unserer Kommunikation sich auf das ausgesprochene Worte – in diesem Beispiel auf das NEIN – beziehen. Die restlichen ca. 93% machen der Klang unserer Stimme und unsere dazugehörige Mimik und Gestik aus. Wenn wir das wirklich verstehen, können wir Klang, Mimik und Gestik auch bewusst einsetzen! Das hilft uns, step by step die Opfer-Haltung zu verlassen. Denn wenn unser NEIN nicht sicher kommuniziert wird, animieren wir unser Gegenüber unbewusst dazu, weiter zu machen. Wir signalisieren: Wenn du mich weiter bedrängst, wird aus meinem NEIN ein JA. (Und zwar nicht, weil ich das will, sondern weil ich innerlich aufgebe.)

Konkrete Maßnahmen

Nehmen wir einmal an, es gibt einen dauerhaft schwelenden Konflikt zwischen dir und einem Kollegen. Und dieser Konflikt erzeugt Druck in dir und füttert deine (Ess)Probleme. Doch demnächst steht ein klärendes Gespräch an. Was kannst du also tun, um ihm eine deutliche Grenze zu setzen?

Du findest heraus, wann, wo und wie du ihm gegenüber bisher eine Opfer-Rolle eingenommen hast:

Führe dir den letzen konkreten Zwischenfall vor Augen und finde heraus, wie du (nonverbal) kommuniziert hast. Verurteile dich nicht dafür, verstehe es und lerne daraus! Erinnert dich diese Situation an eine andere Situation aus deiner Kindheit? Wie war es damals, was ist heute tatsächlich anders? Schreibe einen Gedankensalat darüber.

Du machst dir bewusst, wo deine Grenzen sind und was du vermitteln willst:

Welches Ergebnis willst du erreichen? Gib dir einen Tag vor dem Gespräch ein wenig Zeit, schließe die Augen und visualisiere, male dir dein „bestes Ergebnis“ in den schönsten Farben aus!

Du erinnerst dich daran, deinen Körper bewusst einzusetzen:

Du bist nicht mehr klein und hilflos, also mach‘ dich bewusst groß: Das funktioniert beispielsweise ganz wunderbar mit Power Posing. Die Sozialpsychologin Amy Cuddy hat herausgefunden, dass schon zwei Minuten dazu führen, dass du dich „siegessicherer“ fühlst und dementsprechend (nonverbal) kommunizierst. Hier findest du ihren Vortrag auf YouTube. Signalisiere dann deinem System, dass du „alles im Griff hast“, in dem du ganz bewusst länger aus- als einatmest. Beides kannst du direkt vor dem Gespräch (notfalls auf der Damentoilette) praktizieren.

Du setzt deinen Körper bewusst ein:

Sei ganz bei dir und bleibe innerlich und äußerlich groß und versuche, nicht ständig zu lächeln.

Du verurteilst dich nicht für das Ergebnis:

Egal, wie das Gespräch ausgegangen ist: Schaue es dir rückblickend an und lerne – falls nötig – daraus. Verurteile dich nicht.

Zeit und Wiederholung

Der Ausstieg aus der Opfer-Rolle braucht – wie so viele gewünschte Veränderungsprozesse – Zeit und Wiederholung. Während des Seminars ist auch mir noch mal klar geworden, wie sehr ich im Laufe der Jahre aus meiner Opfer-Rolle ausgestiegen bin. Und ich hatte auch gar kein Problem, meinem Gegenüber ein ordentliches NEIN entgegen zu schmettern ohne zu lächeln. Grenzen kann ich mittlerweile gut! ;) Und du kannst diese Erfahrung ebenfalls machen: Du bist kein Opfer mehr! Du bist eine Gewinnerin! Denn egal, was du bis hierhin erlebt hast: Du bist noch da!

Lasse alle vergangenen Taten beim Täter und verlasse deine Opfer-Haltung!

lebenshungrige Grüße Simone