Warum das Sein entscheidender als der Schein ist und was das mit der Qualität von (m)einem Strandurlaub zu tun hatte

Ich hatte in diesem Sommer das großartige Vergnügen, zwei Wochen mit meiner Familie einen Strandurlaub an der Côte d’Azur verbringen zu dürfen. Und dabei ist mir noch mal so richtig bewusst geworden, wie viel angenehmer und stressfreier meine Urlaube generell sind, seit ich keine Essstörung mehr habe.

Strandurlaub? Du musst abnehmen!

Als ich noch essgestört war, begann der Stress schon geraume Zeit vor dem eigentlichen Strandurlaub:

Du musst abnehmen und du musst dich in Form bringen, dann schaffst du es in diesem Jahr endlich, die perfekte Bikini-Figur vorzuzeigen!

Durch diesen Anspruch an mich selbst nahm ich mir als Essgestörte jegliche Vorfreude auf den Strandurlaub. Selbstverständlich machte dieser perfektionistische Gedanke, der sich wie ein Mantra in meinem Kopf wiederholte, mir regelmäßig so viel Druck, dass die Essstörung stärker und mein Selbsthass größer wurden:

Warum schaffst du es schon wieder nicht? Du kannst dich einfach nicht beherrschen! Hast du denn kein Fünkchen Disziplin? Wo bitte ist deine Willenskraft? Alle anderen können das doch auch!

Schaut er mir nach? Bin ich dünner als sie?

Meine Urlaube begannen also regelmäßig mit Stress und Enttäuschung und natürlich mit einer Menge Anspannung. Denn besonders Strandurlaube, bei denen naturgemäß viele Hüllen fallen gelassen werden, boten mir als Essgestörte einen guten Nährboden für noch mehr (Selbst)Verachtung.

Als Essgestörte war ich am Strand permanent damit beschäftigt, den Bikini passend zu zerren, den Bauch einzuziehen, mich möglichst vorteilhaft zu präsentieren, die Reaktionen der Männer auf mich zu registrieren um mich dabei gleichzeitig mit den anderen Frauen zu vergleichen.

Wo bitte sollte da noch Platz für Erholung sein?

Wie sollte ich so einen Strandurlaub genießen?

Der Alptraum Buffet: Wie viel wovon und soll ich noch mal hingehen?

Hatte ich den Strand-Spießrutenlauf überstanden, wartete im Hotel schon der nächste Kriegs-Schauplatz: Das Abendessen. Sich an den unendlichen Möglichkeiten eines Buffets erfreuen? Einfach hinsetzen und genießen, dass man selbst nichts zubereiten muss? Pustekuchen! Für Essgestörte werden Buffets & Co. ganz schnell zum Alptraum:

Soll ich nur Salat essen und wie viele Kalorien das Dressing wohl hat? Jetzt habe ich eh schon wieder zu viel gegessen, jetzt ist es auch egal… Ob es den Tischnachbarn wohl auffällt, dass ich schon wieder von der Pasta nehme? Obst oder Pudding, Pudding oder Obst, oder lieber gar keinen Nachtisch? Scheiße, scheiße, der Pudding war einfach viel zu viel, das muss wieder raus, wie komme ich jetzt unbemerkt zu einer Toilette?

Entspannung geht anders…

Der letzte unbeschwerte Strandurlaub

Im Alter von 15 fing ich bewusst an zu hungern und wollte unter meine persönliche “magische Grenze” von 50 kg gelangen. “Wenn ich das schaffe, wird alles gut”, dachte ich. Als ich 16 war, flog ich mit meiner Mutter nach Gran Canaria. Damals wog ich 49 kg, die ich aber nur mit “Disziplin” halten konnte.

Dieser Strandurlaub war sehr schön und ich begann recht schnell, mich “einfach essen zu lassen”. Nach zwei Wochen kam ich gut gelaunt und braun gebrannt zurück und einer meiner damaligen Verehrer sagte: “Du hast zugenommen.”

Bähm! Es stimmte, ich hatte während der zwei Wochen zwei Kilo zugenommen. Heute weiß ich, dass diese zwei Kilo nötig waren, doch damals dachte ich:

Mist, wie konntest du dich nur so gehen lassen, das hast du jetzt davon! Du weißt doch, dass du dünn sein musst, um perfekt und unangreifbar zu sein.

Und obwohl ich diesem Verehrer kurze Zeit später den Laufpass gab, weil ich ihn nicht wollte, festigte dieser Vorfall meinen “Glauben”, unbedingt noch dünner sein zu müssen.

Ein Jahr später, ich hatte mit einer Freundin Strandurlaub in Kroatien gemacht, kam ich – nachdem ich das Kotzen “entdeckt” hatte – mit weniger als 50 kg nach Hause. “Yes”, dachte ich, und freute mich auf meinen damaligen Freund. Doch der interessierte sich nicht für meinen “Erfolg” und gab mir kurze Zeit später den Laufpass.

Und das brachte mein Weltbild so ins Wanken, dass endgültig alle Dämme brachen und ich die Kontrolle über mein Essen komplett verlor…

Ist die Gesellschaft Schuld?

War es also die Schuld der Männer, dass ich den Totalabsturz erlebte?

Nein, natürlich nicht. Es lag einzig und alleine an der Macht, die ich anderen Menschen über mich gab. Aber auch das war nicht meine Schuld, denn ich war mir dessen einfach nicht bewusst.

Ich verstand nicht, dass mein Leben nicht automatisch leichter wurde, wenn ich meinen Körper immer leichter machte.

Und ich weiß, dass nicht nur ich diesem Irrglauben erlag, dem immer mehr erliegen. Denn heute wird uns mehr denn je vorgegaukelt, dass wir uns äußerlich perfektionieren müssen um glücklich und zufrieden sein zu können. Denn die permanente Unzufriedenheit von Frauen ist ein Milliardengeschäft.

Doch wo sind all die glücklichen Frauen? Das einzige was zunimmt, sind die psychosomatischen Krankheiten und die Bankkonten der Nutznießer der weiblichen Unsicherheit.

Im Strandurlaub so unbeschwert wie die Kinder sein

Nicht das Essen oder mein Gewicht waren jemals mein wirkliches Problem, sonder dass, was ich über mich und das Leben dachte.

Heute denke ich anders und das hat meine Welt zu einer anderen gemacht.

Meinen diesjährigen Strandurlaub in Frankreich konnte ich jedenfalls – wie mittlerweile schon wieder so viele Urlaube – so unbeschwert genießen, wie meine Kinder es können. Und er begann mit unbändiger Vorfreude…

Es ist nicht mehr entscheidend, wie mein Körper aussieht, es ist entscheidend, wie er sich anfühlt.

Und er fühlt sich gut an, wenn er entspannt im warmen Sand liegt. Er fühlt sich gut an, wenn er genussvoll in das erfrischende Wasser eintaucht. Und er fühlt sich gut an, wenn er verlässlich am Strand lang läuft.

Es ist auch nicht mehr wichtig, was andere Menschen über mich (und meinen Körper) denken.

Es ist wichtig, den immer wiederkehrenden Wellen zuzuschauen. Und es ist wichtig, die frische, salzige Luft bewusst einzuatmen. Es ist wichtig, mit den Kindern nach außergewöhnlichen Steinen zu tauchen. Und es ist wichtig, die Schönheit eines Sonnenuntergangs immer wieder genießen zu können.

Es ist wichtig, zu leben.

Nur das macht deine Seele dauerhaft satt und entzieht der Essstörung die Nahrung!

lebenshungrige Grüße

Simone