Die zweiundvierzigste Geschichte (d)einer Essstörung

Eine weitere mutige Frau, die ihre Geschichte mit uns teilt:

Ich bin Perfektionist. Schon immer? Das weiß ich nicht mehr…

Ich bin das jüngste von fünf Kindern. Mein Vater ist Pastor. Aus diesem Grund lag schon immer besonderer Druck auf uns, da er in der ganzen Stadt sehr engagiert ist. Jeder, der etwas mit Kirche am Hut hatte, kannte uns und erwartete von uns, dass wir grüßten. Meine Eltern meldeten uns im zarten Alter von 5 oder 6 Jahren in der Musikschule an. Sie haben dabei immer sehr viel Wert aufs Üben gelegt und uns auch gegebenenfalls dazu gezwungen.

In der 5. Klasse gab mir meine Mathelehrerin einen Test zurück und fragte mich, ob ich die Schwester von Hans sei. Ich bejahte und sie war enttäuscht von mir. Sie hätte mehr von mir erwartet.

Damals machte ich mir nicht viel draus. Mein Leben lang war ich es gewohnt gewesen, in die ausgetretenen Fußstapfen meiner großen Geschwister zu treten. Ständig wurde ich verglichen und bekam von einigen Lehrern sogar zu hören, dass ich mich nicht so benähme wie die Großen. Mir egal! – Meine Trotzhaltung entstand.

Als ich 13 wurde, befand sich mein Vater in stationärer Therapie, da er an einem Burnout erkrankt war. Für mich bedeutete das einfach nur, dass jemand, der mich, seit ich Kind war, eingeschüchtert hatte, nicht zu Hause war. Er kehrte zurück und ich hatte das Gefühl, ihn nicht mehr zu kennen.

Ich bin bereits mit 8 Jahren in die Höhe geschossen und war dementsprechend schwerer als viele meiner Freundinnen. Mich belastet dieser frühe Eintritt in die Pubertät immer noch sehr, doch damals verstand ich es noch nicht. Durch meine Mutter ermutigt startete ich meine erste Diät.

Für ein paar Tage ging alles gut, dann begannen die Essanfälle. Vorher hatte ich das nie gekannt. Ich war immer sehr sportlich gewesen, hatte wegen des Kalorienverbrauchs auch nie auf meine Ernährung achten müssen. Es war ein furchtbares Gefühl, zum Bersten voll zu sein. Ich beschloss, trotzdem abzunehmen und schaffte es.

Ich bekam Bewunderung dafür, dass ich 16 kg verloren hatte (ohne dass ich die Zahl nannte). Doch der Erfolg hielt nicht lange, denn die Essanfälle kehrten wieder. Seitdem befinde ich mich in diesem Kreislauf zwischen Essen und wenig Essen. Nach wie vor weiß ich nicht, wie man richtig isst.

Mit 15 war mir bewusst, dass ich so nicht weit kommen würde. Ich merkte selbst, dass ich gefangen war und es allein nicht schaffen würde. Meine Eltern waren mir keine wirklich große Hilfe dabei. Sie unterstützten mich immerhin in meiner Entscheidung, eine stationäre Therapie zu machen. Nach einem halben Jahr wurde ich entlassen. Ein neues Ich? Schon irgendwie. Ich hatte mich sehr in die positive Richtung verändert, hatte etwas mehr Selbstbewusstsein, machte mehr aus mir, aber die Essstörung inklusive Depression war nach wie vor da und machte mir das Leben zur Hölle.

Immer, wenn ich eine Phase hatte, in der es „gut“ lief mit dem Essen, schöpfte ich neue Hoffnung, eines Tages gesund zu werden. Mit 18 Jahren ging ich für ein Au-Pair-Jahr nach Finnland, was seit Jahren mein Traum gewesen war. Dieser Traum entpuppte sich als Albtraum, da ich mich meiner neuen Familie nicht öffnen konnte und meine Essanfälle plötzlich wiederkamen. Ich glaube, ich wollte mir den Stress mit den Kindern von der Seele essen. Ein ganzes Jahr, in dem ich mich vollstopfte, zog ich durch, weil ich es allen beweisen wollte, dass ich es schaffe! Danach hatte ich mein Höchstgewicht erreicht, und als ich nach Hause zurückkehrte, war auch wieder dieser Wunsch da, abzunehmen. Das ging ein paar Wochen gut, da ich absolut keinerlei Appetit verspürte (Nachwirkungen des permanenten Überessens in Finnland), doch seitdem befinde ich mich wieder in dem Strudel, der mich weiter nach unten zieht.

Meine Familie merkt nicht, wie schlecht es mir geht und ich möchte es ihnen auch nicht sagen. Man würde mich nicht verstehen oder mir raten, mich zusammenzureißen. Ich versuche wirklich, etwas aus meinem Leben zu machen, Freunde zu finden, mich abzulenken. Alles nur, um nicht soviel an Essen zu denken.

Trotz dieser vielen Jahre voller Traurigkeit habe ich immer noch einen Funken Hoffnung in mir, dass alles gut werden wird. Mal leuchtet er mehr, mal weniger. Aber ich weiß, dass es sich lohnt, denn am Ende des Tunnels wird sich etwas ändern. Ich glaube daran. Bleibt stark!

Wo findest du dich in dieser Geschichte wieder und was nimmst du daraus mit?

Das Aufschreiben und Veröffentlichen deiner eigenen Geschichte hilft dir und anderen!

Schicke mir die Geschichte deiner Essstörung an info@lebenshungrig.de und ich veröffentliche sie hier anonym.

lebenshungrige Grüße

Simone