Die zweiundsechzigste Geschichte (d)einer Essstörung
Eine weitere mutige Frau, die den ersten Teil ihre Geschichte bereits vor über einem Jahr mit uns teilte.
Das ist ihre Fortsetzung:
Liebe Simone!
Vor etwa eineinhalb Jahren hatte ich bereits einmal meine Geschichte an dich geschickt.
Damals hab ich erklärt woher meine Essstörung kam und warum ich diese Form der Sucht für mich gewählt hatte. Und nun möchte ich vor allem auch, um anderen zu zeigen und zu sagen was passieren kann, meine Geschichte weiter erzählen.
In den letzten eineinhalb Jahren ist viel passiert. Und wenn ich dachte, dass ich damals schon am Tiefpunkt angekommen sei, so habe ich mich doch sehr getäuscht.
Ich hatte mit deinem Workshop begonnen, aber wie so oft (und viele werden das kennen) bin ich nicht ernsthaft dabei geblieben. Mir war es zu anstrengend, mich mit meinen Problemen und Ängsten auseinander zu setzen. Stattdessen stürzte ich mich in Ablenkung. Neben drei Kindern ging ich 35 h die Woche arbeiten und nahm zusätzlich einen Nebenjob als Yogalehrerin an. Super dachte ich, ist ja Entspannung und keine Arbeit.
Ich hatte mich gerade erst von meinem Mann getrennt, stand das erste mal auf eigenen Beinen und wollte wie immer alles perfekt machen. Meinen Kindern sollte es an nichts fehlen. Ich hüpfte – auch aus finanziellen Gründen – von meinem Job zu meinen Kindern, zum Babysitter und zum nächsten Job. An den Wochenenden passte Papa auf, also konnte ich auch dann arbeiten. Und da ich mich ja getrennt hatte und sowieso keine Rechte hatte (das war meine Sicht), verzichtete ich sogar auf den für mich entlasstenden Unterhalt.
Natürlich studierte ich auch. Denn der Geist muss ja gefordert werden. Immerhin wollte ich nicht nur Mutter sein. Und da ich viel zu wenig Zeit hatte, kam ich mit dem Studium natürlich nicht gut mit. Die schlechten Leistungen kratzten an meinem schon geringen Selbstwertgefühl. Und auch mit meinem Chef gab es immer mehr Probleme. Und die lagen – wie immer – nur an mir. Ich war ja falsch, obwohl ER mich mobbte.
Und Mia (Bulimie) und Ana (Anorexie), meine besten Freunde aus jungen Jahren…
Mia und Ana unterstützten mich in jeder Theorie über mich selbst. Und da mein Tag mir keine Zeit ließ, übergab ich mich nachts. Nur um mir noch mehr Vorwürfe zu machen, wie schwach ich doch war. Andere schafften es doch auch! Lächelten perfekt in ihren perfekten Tag und ihr perfektes Leben. Das wollte ich doch auch.
Ich musste nur noch mehr tun. Besser werden, beim Yoga (oh ja, das gab mir Anerkennung), im Studium (immerhin wollte ich nicht blöd sein), im Job und nicht zuletzt bei meinen Kindern. Mia war da, jede Nacht. Und Ana begleitete mich durch den Tag. Nur so konnte ich besser werden. Und alles richtig machen.
Eineinhalb Jahre ging das gut. Hab meinen Körper gequält und gepuscht. Ging über meine Grenzen hinaus, ohne meinen Körper zu spüren. Ich wollte noch besser werden.
Und dann bin ich gestorben
Ich starb. Nicht im übertragenen Sinne. Nein. Mein Herz schlug nicht mehr. Für eine halbe Stunde war ich tot. Beim Wakeboarden. Einfach umgekippt. Ohne Vorwarnung.
Tako-Tsubo-Syndrom, sagten sie meinen Eltern. Zu viel Stress, erzählten sie meinem Freund. Eine Woche lag ich auf der Intensivstation. Im Koma. Kämpfte um mein Leben. Die Ärzte halfen mir. Sie reanimierten mich drei mal an zwei Tagen, kühlten meinen Körper auf 34 °. Kalt war gut. Das kannte ich bereits.
Als sie mich aus dem Koma holten, zog ich mir als erstes die Magensonde. Essgestörten tut man sowas nicht an! Ich kämpfte noch immer gegen mich selbst, wollte nichts wahr haben.
Erst jetzt, nach fast sechs Wochen, fange ich an zu verstehen, wieviel Glück ich hatte. Ich stand am Start beim Wakeboarden. Zwei Minuten später wäre ich auf dem Wasser gewesen. Das hätte meinen Tod bedeutet. Für immer. Für IM MEER.
Ich bin mit 29 Jahren gestorben für etwas, dass ich 17 Jahre lang als meine Freundinnen bezeichnete. Als überlebenswichtig: Mia und Ana.
Ich hab ein zweites Leben bekommen und die Chance, neu anzufangen. Ohne meine Freundinnen. Mit meinen Kindern. Meinem Körper. Als Mensch. Egal wie schwer es wird.
Jeder sollte seine Chance nutzen. Und leben.
Wo findest du dich in dieser Geschichte wieder und was nimmst du daraus mit?
Das Aufschreiben und Veröffentlichen deiner eigenen Geschichte hilft dir und anderen!
Schicke mir die Geschichte deiner Essstörung an info@lebenshungrig.de, ich veröffentliche sie anonym.
lebenshungrige Grüße
Simone