Die vierundsechzigste Geschichte (d)einer Essstörung
Eine weitere mutige Frau, die ihre Geschichte erneut mit uns teilt:
Ich hatte vor einiger Zeit schon mal einen Text geschrieben, das war aber nur die halbe Wahrheit, welche noch zusätzlich in Watte gepackt war.
Hier folgt jetzt die ganze Wahrheit.
Ich habe lange überlegt, ob ich diese Geschichte aufschreiben soll, ob ich meine Gefühle und Gedanken zu Papier bringen darf und ob ich den Mut habe, dies zu veröffentlichen und in wie weit man mich verstehen könnte.
Meine Geschichte ist nämlich keine, welche gelesen werden würde, keine bedeutende Biografie von einem mutigen und interessanten Menschen. Eher eine traurige Geschichte, in der ich verneinen muss, das ich die Krankheit überwunden habe. Denn sie handelt bloß von einem Mädchen, dass alles zerstört, es ändern will und es doch am Ende nicht wirklich schafft.
Ist man mutig, wenn man sich entscheidet mit jemanden zu reden? Wem kann man noch vertrauen? Hätte man lieber schweigen sollen? Wie lang kann man etwas totschweigen bis man daran zerbricht? Ich habe jahrelang meine Essstörung geheim gehalten. Alles fing mit 8 Jahren an, dem Jahr als meine Eltern sich trennten.
Ich habe nie mehr als einen Teller gegessen und darauf war auch immer nur eine kleine Portion. Ich habe angefangen immer mehr Lebensmittel mit den Jahren zu streichen, mir verboten. Schulbrote worden entsorgt. Ich habe all die Jahre eine perfekte Strategie entwickelt um Familie, Freunde und Ärzten zu vermitteln, dass ich nicht essgestört bin und sie an der Nase herum geführt. Ich kenne sämtliche Tipps und Tricks.
Ich bin mehr so der stillere Mensch, der sich gern im Hintergrund aufhält, weil es dort sicherer ist. Bin mehr die, die lieber zuhört als spricht, mehr die, die anderen das Reden überlässt, denn reden kann ich nicht. Wie oft kann man zerbrechen ohne mit jemanden darüber zu reden? Was genau heißt zerbrechen? Ist es das tägliche Weinen oder fängt es mit der Isolation an? Ganz egal wie man es definiert, es gibt da jemanden der mich zerbrochen hat, der all das ausgelöst hat.
Man ist immer über meine Grenzen gegangen, hat nicht aufgehört, wenn ich “Nein” gesagt habe. Ich hatte keine Kontrolle, mir hat man sehr viel Schmerz zugefügt. Ich habe zwar den Missbrauch überlebt, bin mir aber nicht sicher, ob ich den Heilungsprozess überlebe. Als ich auf dem Boden lag und nicht mehr aufstehen wollte, als ich Nächte lang weinte, als ich in Panik verfiel, als ich mir Schmerzen zufügte um das Schweigen zu ertragen, als ich bereit war mein Leben zu geben ohne je eins gehabt zu haben, ja, in jeden dieser Momente habe ich gedacht, es sei “okay” so zu leiden, wenn man für alles Schuld war.
Ich wollte einfach über irgendetwas Kontrolle haben und fing dann an, sie über meinen Körper haben zu wollen. Ich dachte mir, warum eine “normale” Portion essen, wenn eine kleine Portion den Bauch nicht füllt? Warum Cola trinken, wenn Wasser keine Kalorien hat?Warum satt essen, wenn das Hungergefühl einem Macht vermittelt? Warum Zucker in den Tee, wenn er ohne kaum Kalorien hat? Warum 3,5% Milch, wenn es auch 0,1% gibt? Warum drei Mahlzeiten, wenn abends zu viel ist? Warum essen, wenn es dick macht? Warum Kurven haben, wenn Größe 32 so elegant klingt?
Es ist ein Kampf gegen mich selbst. Hass, der mir selbst gilt. Es ist Körper gegen Seele. Ein Körper der für’s Überleben kämpft und eine Seele die sterben möchte.
Es ist der Kampf zwischen zwei Stimmen, die eine schreit nach Hilfe, will leben, weiß, dass es nicht gesund ist was ich mache und die andere hält dagegen, dass sie mich alle fett machen, sich ekeln vor mir, ich hässlich bin. Innerlich ist es ein Schlachtfeld, es ist so laut, unerträglich, grausam. Keiner kann sich vorstellen wie schlimm es ist, wie sehr man leidet. Es zerreißt einen innerlich komplett.
Man sieht mir den Schmerz nicht an, man kann ihn nur leicht erahnen, wenn ich es aufschreibe. Aber selbst der Versuch es aufzuschreiben vermittelt nur einen winzigen Bruchteil von dem, wie es wirklich ist. Jeden Tag werde ich von der Stimme fertig gemacht:
Na, willst du dir schon wieder Kalorien reinstopfen?
Was wird es diesmal sein? Brot, Joghurt, Müsli oder noch schlimmer? Fortimel? Du weißt, dass in 200 ml 300 kcal sind?
Du willst es doch eigentlich nicht, du weißt genau wie unfassbar du dich dafür hassen wirst. Ist es dir das Wert? 10 Minuten Genuss für lebenslanges Fettsein?
Schau dich doch mal an, dein Fett, überall an deinem Körper. Du erträgst doch noch nicht mal dein Spiegelbild. Du weinst doch jedes Mal, wenn du deinen Körper siehst. Siehst du irgendwo deine Knochen? Deine Hüftknochen, tragen sie deine Hose? Nein, weil du fett bist, da ist noch soviel Gewicht was runter musst. Du siehst in Jeans aus wie ein Wal. Wenn dein Bauch über den Hosenbund quillt, könnte jeder kotzen. Du bist einfach nur ekelhaft und fett. Du machst mich unglaublich wütend, wenn du probierst mich zu ignorieren, mich zu verdrängen. Aber das gelingt dir nicht. Du kämpfst gegen das Erbrechen an, aber ich weiß, dass du dich danach sehnst leicht zu sein. Du weißt, dass ich Ruhe gebe, wenn du erbrichst. Aber du kämpfst gegen mich an, denkst du, ich merke das nicht? Du wirst es nicht schaffen, ich bin stärker.
Ich wusste nicht wie krank ich war, bevor ich jetzt versuche, gesund zu werden.
Eine Pflegerin hat zu mir gesagt, dass sie am Anfang ganz geschockt war, als sie mich gesehen hat. Ich war lange in einer “ProAna” Gruppe bevor ich in die Klinik kam. Jeden Abend musste man mitteilen, wie viele Kalorien man zu sich genommen hat, wie viel man davon wieder verbrannt hat. Einmal die Woche ein Wiegebild. Ich wurde vor 5 Tagen aus der Klinik entlassen, nach einem halben Jahr Therapie. Zwei Monate davon mit einer Magensonde, selbst da habe ich probiert dagegen zu halten und ich hab es am Anfang noch geschafft, trotz der Sonde abzunehmen. Der Drang danach Kalorien sofort zu verbrennen war so stark, dass es normal wurde, dass man eine benebelte Sicht hatte, voller Schwäche war und manchmal den Geruch von Blut in der Nase hatte.
Jetzt bin ich wieder Zuhause und habe es innerhalb von 5 Tagen geschafft, 3 Kilo abzunehmen. Das Gewicht welches ich halten sollte, hatte ich nach den ersten zwei Tagen schon nicht mehr gehabt. Ich müsste das jetzt halten, weil ich sonst den Mindest-BMI für die Wohngruppe für Essgestörte nicht mehr habe. Wenn man aber dann die Zahl auf der Waage sieht, wie sie abnimmt, dann fühlt man sich gut, aber nie gut genug, dass man sagt “jetzt reicht es, jetzt brauch ich nicht mehr abnehmen. So werde ich mich mögen, so bin ich dünn genug”
Auf der einen Seite will ich die Krankheit endlich besiegen, das ist kein Leben mehr und vom Verstand her, weiß ich auch, dass es nicht gesund ist.
Nach den Gesprächen mit den Ärzten und Pflegern war ich immer motiviert zu kämpfen. Bis die Mahlzeit kam, dann brach alles wieder zusammen. Aber es fühlt sich einfach nicht so an. Ich sehe nicht wie dünn ich bin, ich sehe nur Fett. Ich hab in der Klinik immer herausgefunden, wie viel die anderen wiegen. Da waren welche, die hatten den gleichen BMI wie ich und ich fand die richtig dünn, aber mich sowas von fett.
Ich weiß nicht, wer ich ohne die Krankheit bin. Für mich war sie immer wie ein treibender Baumstamm in einem reißenden Fluss. Ich habe den Baumstamm schon losgelassen, aber schaffe es nicht an das rettende Ufer zu schwimmen. Ich brauche den Platz in der WG, weil es Zuhause einfach nicht klappt. Ich brauche die professionelle Unterstützung, ohne schaffe ich es nicht und ich will es schaffen.
Ich bewundere es, wie gesunde Menschen einfach so essen können ohne sich einen Kopf darum zu machen, was sie da gerade an Kalorien zu sich nehmen. Es sieht immer so leicht aus.
Ich wünschte die Geschichte hätte ein positives Ende, aber im Moment muss ich einfach abwartet, ob die Kosten übernommen werden…
Wo findest du dich in dieser Geschichte wieder und was nimmst du daraus mit?
Das Aufschreiben und Veröffentlichen deiner eigenen Geschichte hilft dir und anderen!
Schicke mir die Geschichte deiner Essstörung an info@lebenshungrig.de, ich veröffentliche sie anonym.
lebenshungrige Grüße
Simone