Die sechsundvierzigste Geschichte (d)einer Essstörung

Eine weitere mutige Frau, die ihre Geschichte mit uns teilt:

Hi Simone, ich tänzle lange schon um deine Website rum und schon bei der Sample-Meditation musste ich weinen. Ständig nur weinen bei dir. Ich glaube das ist ganz gut, so diktiert es mir mein Verstand. Denn irgendwie funktioniert ja alles und informiert bin ich auch und Informationen speichere ich recht schnell ab, objektiv gesehen scheine ich also nicht dumm zu sein. Die Logik sagt mir: Wenn du eine Essstörung hast, dann stimmt etwas psychisch nicht, wenn du weinst, wird es aufgebrochen und das ist gut. Aber mir gefällt es nicht.

Ich bin auch praktisch die Erste in meiner Familie die studiert hat und eine der wenigen mit einem vernünftigen Schulabschluss. Mit all dem gebe ich unheimlich gerne nach Außen hin an:
“Oh, mein Abi? Hach, dafür habe ich nicht gelernt und hatte trotzdem 15 Punkte…” oder “Ah, so ne Scheiße. Ich hab meine Bachelorarbeit in 3 Tagen geschrieben und habe nur eine 2,0. Noch einen Tag mehr und es wäre eine 1,3 oder so geworden.” Und auch hier und jetzt tue ich es: Ich gebe an! Denn was ich den anderen gesagt habe stimmt zwar, ist aber nicht die ganze Wahrheit. Mag sein, dass ich meine BA in 3 Tagen GESCHRIEBEN habe, aber die 8 Wochen vorher war ich ja nicht untätig. Mag sein, dass ich über die Abiaufgaben überrascht war, weil ich nicht wusste, dass wir dann schreiben, aber meine Prüfungsfächer haben mir ja vorher SPAß gemacht, also habe ich wohl irgendwie mitgelernt.

Und ich bekomme ständig Komplimente wie gut ich malen könne und habe sogar schon Jobangebote bekommen. Aber Hand aufs Herz? Ich verzögere sogar nach der Abgabe meiner Bachelorarbeit meinen Studienabschluss, habe Angst in einem Beruf zu arbeiten bei dem ich kreativ sein muss, denn: Ich bin nicht gut. Nicht so gut wie sie denken. Ich werde bewundert und um Rat gefragt, aber ich plappere nur nach was ich gehört habe. Halbwahrheiten, Binsenweisheiten. Um Himmels Willen: Das kann man alles im Netz nachlesen, das ist nicht wissenschaftlich fundiert.

Und auch meine Behauptungen wie und wann ich esse und Sport mache: Alles übertrieben. Gerade gestern habe ich mich so sehr überfressen, dass ich geweint habe. Ich habe schon so oft, so viel gegessen und dabei geweint und versucht mich zu wehren, aber weißt du was: ich habe weiter gegessen. Nachdem mir so schlecht war, habe ich eine Pause einlegen müssen und es meinem Freund erzählt. Ich glaube er ist überfordert, mit meiner BED, aber er versucht mich zu unterstützen. Er hatte solchen Hunger und musste natürlich was essen, aber ich saß daneben wie ein Junkie. Mit zuckenden Beinen, bereit in die Küche zu stürmen, mit ständigem Gebrabbel, um mich abzulenken. Er hat mich in den Arm genommen, versucht das Essen von mir fern zu halten, dass ich nicht in Versuchung gerate.

Ich habe an dem Abend nichts mehr gegessen, aber es war hart. Und es ging nur mit Kaugummi und Tee. Und darüber bin ich mir auch unsicher: KIar, es hat jetzt keine Kalorien, aber ob das die richtige Strategie ist? Mehr Schlucken, mehr Kauen, mehr Geschmack, mehr in meinen Mund?

Um mal das ganze Bild zusammen zu fassen, sonst wird alles aus dem Zusammenhang gerissen:

Ich bin als Suchtkind auf die Welt gekommen (meine Mutter war – denke ich – kein Junkie, hat aber Drogen und sehr viel Cola (Koffein) in der Schwangerschaft konsumiert), und lebte die ersten sechs Jahre bei ihr. Ich war neugierig und vorlaut, schon immer, und habe deshalb ihre “lustigen Pillen und Pulver”, genauso wie ihre Zigaretten, ausprobiert, in ihrem Beisein! Ich habe immer gefragt, wollte immer brav und nett sein, nicht dass mir das je gelungen wäre. Weil meine Mutter lieber Schnittmuster kaufte, haben wir gehungert und ich aß alles was ich in die Finger bekam, von überall. Ich habe mich sogar für Maoam von ihrem Freund vergewaltigen lassen. Dafür hatte ich lange Zeit ein schlechtes Gewissen, weil sie mir die Schuld dafür gab, als sie uns erwischte (zu dem Zeitpunkt war ich gerade sechs).

Ich lebte fortan bei meiner Oma, mit meiner Schwester zusammen.

Als ich in die Schule kam, wurde ich Spargeltarzan genannt, weil ich so dünn und groß war. Und egal wie viel ich aß, ich verbrauchte alles gleich wieder für mein Wachstum. Ich war sehr dünn, bis ich ausgewachsen war, mit ca. 13. Aber mein Essverhalten änderte sich natürlich nicht. Kurze Zeit später zog mich meine Oma und ihre Freundin immer auf: “Na, im wievielten Monat bist du schwanger?” Sie meinten es nicht böse, sie waren selbst beide etwas kräftiger gebaut, aber ich fand das müsste so sein, weil man so mit Omas besser kuscheln könne.

Um das gleich klar zu stellen: Meine Oma war die beste Mutter die man sich hätte wünschen können, denn obwohl wir arm waren, habe ich mich nie so gefühlt. Saubere, heile Kleidung. Baden, wann ich wollte und ständig verfügbares Essen. Drei Mal täglich hat sie sich Mühe für uns gemacht, hat meine Wutausbrüche ertragen und mich immer animiert: Egal wie schwer man es hatte, man darf sich nicht darauf ausruhen, man kann alles schaffen. (Das sagte sie einem Kind mit Hirnschaden, dem nach der Grundschule empfohlen wurde in die Sonderschule zu wechseln. Das sagte sie einem Kind, das Probleme hatte einen Stift festzuhalten und kaum Feinmotorik besaß. Das sagte sie einem Kind, das schneller dachte, als es sprechen oder schreiben konnte und so viel Wut und Fantasie hatte, dass es die Realität nicht ausmachen konnte. Einem Kind, das nur schwarz und weiß sehen konnte und sich für jedes “Verbrechen” bestrafte.)

In der Schule kapselte ich mich ab, war immer die “Erwachsene”, unheimlich vernünftig. Ich wählte auch mein Studium vernünftig: Germanistik oder Kunst? Germanistik natürlich! Geisteswissenschaftler bekommen immer einen Job, mit Kunst wird man ja nichts und wenn man dann mal nicht mehr kreativ ist? Ich wollte mir mein Hobby nicht kaputt machen, dabei hätte ich mindestens ein Stipendium bekommen. (Achtung, Angeberalarm!)

In meinem Studium habe ich viel ausprobiert und es war auch toll, bis ich eine schwere Depression bekam, alles was ich mir aufgebaut hatte, all meine Lügengespinste brachen für mich zusammen. Ich war nicht mehr die fleißige Studentin, auf die man sich immer verlassen konnte, die alles wusste und perfekt war, obwohl ich reichlich auf den Hüften hatte. Das Ende meines Studiums rückte näher. Alle waren so klug im Seminar (sie waren auch schon im Masterstudium, ich erst im Bachelorstudium), und ich gab meine halbausgegorenen Gedanken dazu. Heuchlerisch. Ich gab nur in anderer Kombination wieder, was ich aufgeschnappt hatte… Ich hätte nicht mal mehr sagen können, woher ich die Infos hatte. Ich verzögerte also mein Studium, solange es ging, bis es nicht mehr ging. Ich hatte einen Zeitplan und es funktionierte nicht.

Meine These in der BA war so lächerlich offensichtlich, dass ich mich wunderte, dass bisher niemand darüber publiziert hatte. Ich hatte nun also meine 2,0. Ein Seminar im Nebenfach nur noch, nur noch eins! Und dann, als es zu meinem Referat kam: Ich war krank. Ich war nicht fertig. Ich hatte fürchterliche Bauchkrämpfe und leichtes Fieber. Ich hatte Angst. Ich hatte einen Fressanfall. Ich weiß nicht, wie es nach dem Studium weiter gehen soll. Alle sagen: “Keine Sorge, du machst das. Du hast immer alles geschafft.” Ja, und wenn jetzt nicht? Ich will nicht auf Hartz IV angewiesen sein, ich will meine Schulden abbezahlen. Ich will nett und höflich bleiben. Ich darf auf keinen Fall versagen, kann nicht werden wie meine Eltern: Ohne Schulabschluss, ohne feste Arbeit, ohne Ausbildung, ohne gesellschaftlichen Bindungen.

Und eigentlich weiß ich nicht was ich will, was ich kann und ob das alles mit meinem Freund vereinbar ist: Ich will ihn nicht verlieren. Aber wenn ich meine Essstörung loswerde, dann verliere ich einen Teil, der mich praktisch 22 Jahre ausgemacht hat (und ich bin erst 25). Er ermutigt mich stets das zu machen, was mich glücklich macht und unterstützt mich, aber was wenn ich ihn dadurch verliere? Ich weiß ja nicht mal, ob ich das kann, was ich vorgebe zu können. Macht mich vielleicht eine ganz andere Tätigkeit wirklich glücklich? Oder zeichne ich doch sehr gerne? (Nicht, dass ich es lange aushalten würde ohne, aber dennoch).

Ich kann nicht sagen, was mich wirklich glücklich macht. Nur Momente: Der Moment, wenn ich die flüssigen Farben vermische, wie ein Chemiker oder der Moment, wenn wir beide zusammen im Bett liegen. Oder wenn mich im Frühling die ersten Vögel aus dem Bett zwitschern.

Aber es gibt auch Situationen die gleich sind: Ich male wie eine Fünfjährige mit gebrochenem Arm, sowas kann man ja niemandem zutrauen. Ich müsste noch sehr viel perfekter werden, um da jemals arbeiten zu können. Oder ich kann die Gegenwart meines Freundes für einen Moment nicht ertragen, will seine Avancen nicht, und habe dann ein schlechtes Gewissen. Aber wie kann er mich wollen, so fett und hässlich wie ich bin? Oder die Vögel und das Licht sind so laut, dass ich am liebsten schreien will, sie abknallen, aber hey: Ich bin nett und freundlich, und jeder sieht zu mir auf, richtig? Meine Welt ist perfekt und wer könnte nicht dankbar und glücklich in meiner Situation sein…?

Achja: Es tut mir leid, dass ich dich jetzt als Ventil benutze, aber irgendwie bist du so weit weg und so leicht zu erreichen… Und es tut mir leid, dass ich jetzt wohl meine Therapeutin enttäuscht habe, denn ich soll mich nicht ständig entschuldigen, aber wenn man unhöflich wurde, jemandem seine Zeit gestohlen hat, dann finde ich, ist es angebracht. Ich nehme auch an, dass du die Mail bis zuende gelesen hast und möchte mich für meine Angeberei und mein “huhu-mir-gehts-so-schlecht” entschuldigen, auch wenn das andere nicht so sehen. Ich will Mitleid, aber ich will auch keines.

Ich weiß nicht, wie ich mit Kritik, Lob, Zurückweisung oder Zuwendung umgehen soll. Alles ist falsch, außer oft bei meinem Freund.

Wo findest du dich in dieser Geschichte wieder und was nimmst du daraus mit?

Das Aufschreiben und Veröffentlichen deiner eigenen Geschichte hilft dir und anderen!

Schicke mir die Geschichte deiner Essstörung an info@lebenshungrig.de und ich veröffentliche sie hier anonym.

lebenshungrige Grüße

Simone