Die sechsundsechzigste Geschichte (d)einer Essstörung
Eine weitere mutige Frau, die ihre Geschichte mit uns teilt:
Als Kind wurde ich von meiner Familie immer als dünn bezeichnet, ich hab das immer auf “schlank” heruntergeredet, weil dünn für mich krank klingt, während schlank einfach etwas über den Körper aussagt. Und krank war ich ja nicht. Ich habe viel gegessen, auch viel Ungesundes, weil wir immer Süßigkeiten im Haus hatten und auch kaum kontrolliert wurde, wie viel wir davon gegessen haben.
In der Pubertät fing es dann relativ plötzlich an, dass ich vom Essen zunahm, was ich anfangs nicht schlimm fand, ich war schließlich nicht dick und auch nicht dicker als meine beiden älteren Schwestern, die immer eine Vorbildfunktion für mich hatten.
Seit der Grundschule wurde ich gemobbt, oder habe zumindest mitbekommen, dass über mich gelästert wurde. Doch gegen Ende der Grundschule hatte ich ein paar wirklich gute Freundinnen und fühlte mich auch wohl in der Klasse.
Mit dem Wechsel aufs Gymnasium ging die Freundschaft mit den Mädels auseinander und ich fand mich alleine in der neuen Klasse, in der ich am Anfang gute Freundinnen fand, die sich aber relativ schnell auch wieder von mir abwandten. Hier wurde das Mobbing wieder schlimmer, ich habe mich total unwohl gefühlt und nachdem erste Beleidigungen bezüglich meines Gewichts gefallen waren, begann ich auch, mich in meinem Körper unwohl zu fühlen.
Nach zwei Jahren wurden wir glücklicherweise in neue Klassen aufgeteilt und mit dieser neuen Klasse hatte ich deutlich mehr Glück. Ich fand schnell Freunde, und mein Selbstbewusstsein, das bis dahin immer extrem niedrig gewesen war, erholte sich etwas. Mein Umfeld war also wieder super, ich fühlte mich auch immer wohler, nur die Unzufriedenheit mit meinem Körper blieb.
Als die Tücken des Teenagerseins dann auch mich erwischten und ich zum ersten Mal richtig Liebeskummer hatte, konnte ich kaum etwas essen, ernährte mich einige Zeit fast nur noch von Orangensaft und stellte danach fest, zwei Kilo abgenommen zu haben. Ich versuchte, das beizubehalten, nur Orangensaft zu trinken, doch ich war zu undiszipliniert, ich konnte das neue Gewicht zwar halten, nahm aber nicht weiter ab und fühlte mich weiterhin unwohl in meinem Körper. Nach einer weiteren Liebeskummerphase wog ich weitere zwei Kilo weniger, fühlte mich aber immer noch zu dick und hatte in meiner Verzweiflung begonnen, mich selbst zu verletzen.
Dann begann ich, Süßigkeiten wegzulassen. Ich hatte begriffen, dass die Jungs, die ich gut fand, immer meine schlankeren, hübscheren Freundinnen besser fanden, als mich, was begann, mich zunehmend zu stören. Abgesehen von den Süßigkeiten, habe ich angefangen, auch generell weniger zu essen, schaute mich in Drogeriemärkten nach Abnehmtabletten und -shakes um und fixierte mich zunehmend aufs Essen. Da muss ich etwa 13 gewesen sein.
Eines Tages im Drogeriemakrt sprach mich ein Mann an, als ich gerade vor dem Regal mit Proteinshakes etc stand, er hat mir gesagt, diese Sachen würden nicht schlank machen, sondern nur schlank halten. Diese Begegnung bestätigte mich in der Meinung, zu dick zu sein, obwohl ich damals schlank bis normalgewichtig war. Im Nachhinein hasse ich diesen Menschen geradezu für diesen Satz.
Etwa ein Jahr später habe ich angefangen, Kalorien zu zählen, habe nie mehr als XXX Kalorien gegessen, was für Essgestörte ganz schön viel ist, ich hätte mich damals auch nicht als essgestört bezeichnet, aber rein objektiv gesehen, sind XXX Kalorien zu wenig für ein aktives Mädchen im Wachstum. Es wurden weniger Kalorien, oft nur noch XXX, dann XXX, schließlich XXX-XXX.
In dieser Zeit fiel meiner Mutter auf, dass ich ganz schön abgenommen hatte, und auch extrem wenig aß. Ich war nie dolle oder gefährlich untergewichtig, einfach schlank. Meien Mutter, die schon eine magersüchtige Tochter hatte und auch selber nicht gerade die emotional und psychisch Stabilste ist, machte genervte bis böse Kommentare und gab mir damit das Gefühl, Schuld daran zu sein, dass es ihr schlecht ging.
Immer noch aber hätte ich mich nicht als essgestört bezeichnet, natürlich war mir bewusst, dass ich sehr aufs Essen fixiert war, aber essgestört? Dafür wog ich doch zu viel, hatte eine zu normale Figur.
Mit 15 erbrach ich mich das erste Mal. Ich war drei Wochen bei meiner Schwester und hatte die ganze Zeit schon mehr gegessen als sonst, weil wir immer zu zweit gegessen haben. Und an dem Abend hatte ich mich beim Fondue geradezu vollgestopft. Ich hatte das mit dem Finger in den Hals schon ein paar Mal probiert, aber es hat nie so richtig “funktioniert”, also habe ich es gelassen. An dem Abend aber hat es funktioniert. Und ich war glücklich, eine Methode gefunden zu haben, wieder essen zu können. Von da an, erbrach ich mich nach jeder Mahlzeit. Mir ging es super, ich konnte alles kontrollieren und nahm super schnell noch ein paar Kilo ab.
Irgendwann kamen dann aber die Fressanfälle dazu, ich nahm davon zwar nicht zu, aber sie machten mich psychisch fertig. Und weil es mir immer dreckiger ging, ich aber der Meinung war, es immer noch kontrollieren zu können, beschloss ich, das ganze mit dem Kotzen wieder sein zu lassen. Eine Zeit lang funktionierte das, weil aber die Fressanfälle blieben und ich recht schnell wieder zunahm und mich schlechter fühlte, fing ich wieder damit an. So ging es ein paar Mal. Immer wieder hatte ich Anfälle, in denen ich zusammengebrochen bin, geheult habe und einfach nur ein normales Verhältnis zum Essen haben wollte.
Heute, mit 18, kommt das ganze phasenweise. Ich bin eigentlich immer unzufrieden mit meinem Körper, manchmal jedoch kann ich mich damit abfinden und manchmal wünschte ich, ich könnte das ganze Fett einfach abschneiden. Ich würde niemals sagen, dass dünne Menschen schöner sind als dicke. Oft finde ich Menschen mit etwas mehr auf den Rippen sogar schöner, und die Figuren extrem dünner Leute finde ich am wenigsten ansprechend.
Ich hasse das Bild der Gesellschaft, was ein schöner Frauenkörper ist, die Definition von Plus Size und die Perfektheit der Menschen, die uns die Medien ständig vorgaukeln. Trotzdem kann ich mich selbst mit einem normalen Körper nicht akzeptieren. Mein Leben lang war ich Perfektionistin, was sich mit meiner Faulheit und meinem Hang zur Prokrastination nicht besonders gut verträgt. Ich glaube, in diesem Drang zur Perfektion liegen viele meiner Probleme begründet.
Obwohl ich zu mehreren Leuten eine relativ enge Beziehung habe, ihnen viel erzählen kann und einige auch von meiner gelegentlichen Selbstverletzung wissen, habe ich nie jemandem von meiner gestörten Beziehung zum Essen erzählt. Ich stehe nicht gerne im Mittelpunkt und immer habe ich meine eigenen Probleme hintenangestellt, wollte nie jemandem zur Last fallen. Ich habe gelernt, diesen Teil meiner selbst zu verstecken, sodass keiner davon erfährt. Manchmal wünsche ich mir, jemand würde es herausfinden. mir sagen, dass ich krank bin und mir helfen. Aber die meiste Zeit bin ich der Meinung, dass ich nicht krank bin, dass ich mir das einrede, dass ich nicht so schwach sein sollte.
Ich hoffe, ich werde es eines Tages schaffen, mich selbst so zu akzeptieren, wie ich bin und wieder einen normalen Blick aufs Essen zu haben, wieder mit Genuss Essen zu können, ohne Reue, ohne schlechte Gefühle, einfach nur mit der Freude, dass es lecker ist.
Wo findest du dich in dieser Geschichte wieder und was nimmst du daraus mit?
Das Aufschreiben und Veröffentlichen deiner eigenen Geschichte hilft dir und anderen!
Schicke mir die Geschichte deiner Essstörung an info@lebenshungrig.de, ich veröffentliche sie anonym.
lebenshungrige Grüße
Simone