Die fünfundsechzigste Geschichte (d)einer Essstörung
Eine weitere mutige Frau, die ihre Geschichte erneut mit uns teilt:
Es ist schwer, darüber zu schreiben. Und es ist schwer, es kurz zu fassen. Ich möchte es trotzdem probieren, in der Hoffnung, dass meine Geschichte anderen Betroffenen helfen kann.
Ich habe schon als Kleinkind gemerkt, dass ich anders bin als alle anderen.
Ich habe mich immer sehr schwer damit getan, mich einzufügen, habe gespürt, dass mit mir etwas nicht stimmt, aber ich wusste nicht, was es genau war. Ich war immer ein Außenseiter, spärlich vernetzt, mit wenigen Freunden. Außerdem fiel auf, dass ich an simplen Dingen des täglichen Lebens scheiterte, mir selbst nie gut genug und zusätzlich hochsensibel war. Dadurch war es sehr einfach mich zu verunsichern und zu verletzen. Ich hatte kein Selbstbewusstsein. Es ging sogar so weit, dass ich mich abgelehnt habe. Ich fühlte mich wertlos, leer und mein Selbsthass war zeitweise sehr groß.
Das ist untypisch für ein kleines Mädchen in diesem jungen Alter. Lange nahm man an, dass ich an ADHS litt. Eine Therapie gab es für mich aber nicht. Insgesamt kann man sagen, dass ich schon früh verhaltensauffällig war, man sich aber schwertat, mich konkret einer bestimmten Krankheit zuzuordnen. Mein größtes Problem waren und sind bis heute die Emotionen. Egal welches Gefühl in mir aufkommt, ich kann damit nicht umgehen. Besonders problematisch sind: Traurigkeit, Wut, Enttäuschung, das Gefühl abgelehnt zu werden und einsam zu sein.
Trotz dessen habe ich recht lange versucht, meiner Umwelt ein unauffälliges, „normales“ Leben vorzutäuschen und kann behaupten, dass es mir mit unendlich viel Kraft auch ganz gut gelang. Kurz vor der Pubertät brach dann meine Krankheit, die Essstörung, aus. Für mich kam sie wie aus dem Nichts. Heute verstehe ich jedoch, warum sie in mein Leben trat. Sie war ein Mechanismus, um die Gefühle, mit denen ich nicht umgehen konnte, zu kontrollieren und abzuschwächen.
Je dünner ich wurde, umso weniger ich wog, desto besser konnte ich meine Gefühle im Schacht halten. Irgendwann hatte ich dann einen Gewichtsbereich erreicht, in dem es mir nicht mehr möglich war, überhaupt irgendetwas zu spüren. Dieser Zustand war für mich sehr angenehm. Ich habe es genossen, emotionslos und unverletzlich zu sein. Egal, wie stark man mich nun beleidigte, mich traurig oder nieder machte, ich spürte nichts mehr, weder Traurigkeit noch Freude.
Ich war durch die Auszehrung geschwächt, auf der Emotionsebene gemittelt oder neutral und wirklich immer gefasst. Ich kann sogar behaupten, dass ich ein Herz aus Stein hatte. So fühlte es sich an, denn verletzen konnte mich nichts mehr. Ich konnte in diesem Zustand wunderbar mit den schwierigsten Situationen meines Lebens umgehen. Das war mir vorher unmöglich. Ich scheiterte vor meiner Essstörung an den einfachsten Herausforderungen, weil ich nur mit meinen Emotionen beschäftigt war. Das war nun anders. Ich hatte endlich die Lösung für mein Problem gefunden.
Die Gefühle, die mich so viele Jahre so belastet haben, waren nun verschwunden. So fühlte es sich zumindest an. Ich lebte in einer Scheinwelt, so kommt es mir heute vor. Lange ging das gut. Obwohl ich stark untergewichtig war und meinen Körper bis ans Äußerste gefordert hatte, war ich lange erstaunlicherweise extrem leistungsfähig, erfolgreich in der Schule mit Abitur, später erfolgreich im Job, sportlich und bei „stabiler“ Gesundheit, so dachte ich zumindest.
Mit Mitmenschen tat ich mich allerdings immer noch schwer. Ich konnte keine innigeren Beziehungen zulassen, aber auf Distanz war ich mittlerweile in der Lage, Menschen um mich zu haben, denn sie berührten mich ja nicht mehr wirklich. Natürlich werde ich hier keine Zahlen nennen, aber es kam der Zeitpunkt, an dem ich einen kachektischen Gewichtsbereich erreicht hatte. Genau an dem Punkt angekommen, brach dann ziemlich unerwartet alles zusammen.
Mein Immunsystem versagte und ich fing mir eine schwerwiegende Infektion der Lunge ein. Ich kämpfte Monate lang in verschiedensten Krankenhäusern um mein Leben. Ich wurde künstlich ernährt und beatmet, lange im Rollstuhl gefahren, war immobil, immer auf Hilfe angewiesen, total abhängig, konnte mich kaum mehr bewegen, nicht mehr laufen, keine Treppen mehr steigen und meinen Kopf nicht mehr aus eigener Kraft anheben. Sogar duschen oder mich alleine anziehen waren zum Problem geworden. Ich hatte die Kraft einfach nicht mehr. Ich war absolut geschwächt und dem Tod so nahe.
Ich musste noch mal komplett bei null anfangen. Beinahe hätte ich es nicht geschafft und mein so „ausgeklügelter“ Plan, den ich mir über viele Jahre so mühsam erarbeitet hatte, um meine Gefühle zu unterdrücken, hätte mich beinahe mein Leben gekostet. Ich hatte damals nicht eine Minute Angst davor, zu sterben, obwohl ich kurz davor war. Sogar das Gefühl der Angst war für mich nicht mehr wahrnehmbar.
Ich habe überlebt.
Ich nahm wieder Schritt für Schritt zu, mein Gewicht stabilisierte sich und ich hatte wieder mehr Kraft. Mit jedem Kilo kam etwas mehr Leben zurück in meinen ausgemergelten Körper, der sich ganz langsam, über viele Jahre hinweg, wieder erholte. Mittlerweile habe ich wieder einen Gewichtsbereich erreicht, an dem ich Gefühle sehr wohl wahrnehmen kann und das stellt für mich heute nach wie vor ein großes Problem dar.
Trotzdem halte ich mein Gewicht und führe regelmäßig ausreichend Energie in Form von guter Nahrung zu, weil ich heute weiß, dass ich damals den falschen Weg gewählt habe. Ich muss andere Wege für mich finden, um meine Probleme, die immer noch da sind, zu bearbeiten. Genau da stehe ich heute. Ich kämpfe jeden Tag mit mir, jetzt weniger mit dem Essen, aber umso mehr mit meinen Emotionen, die schneller zurückkamen, als es mir lieb war, immer in der Hoffnung, dass ich es eines Tages komplett schaffen werde, irgendwie da raus zu kommen. Ich kann es bis heute noch nicht rational verstehen und schon gar nicht in Worte fassen, was mir passiert ist. Es kommt mir alles so irreal vor.
Meine Essstörung hatte wenig mit Gewicht selbst zu tun, sondern mehr mit Selbstwert und mit der Unfähigkeit meine Emotionen zu kontrollieren.
Was nicht mehr da ist, muss man nicht mehr lernen zu kontrollieren. Ich befinde mich heute immer noch in Therapie, benötige nach wie vor ganz viel externe Hilfe, um meinen Alltag überhaupt zu schaffen, ich bin ständig und mit allem überfordert, sehr sensibel, sehr verletzlich, sehr unsicher, sehr ängstlich und habe leider, aufgrund der Schwere meiner Erkrankung, mit sehr vielen körperlichen Folgeschäden zu tun. Sie werden mich mein Leben lang begleiten und bestimmen heute jede Minute des Tages. Ich bin noch recht jung, trotzdem schwerbehindert, gehbehindert und nie mehr arbeitsfähig. Aber ich lebe und dafür bin ich dankbar!
Ich kann nur allen raten, die Probleme mit Emotionen und deren Regulation haben, nicht meinen Weg zu wählen und zu hungern, denn das ist absolut keine Lösung und funktioniert, wenn überhaupt, nur kurzfristig, bringt einen längerfristig aber nirgendwo hin außer ins Grab oder dahin, wo ich heute stehe. Und das wünsche ich keinem.
Wo findest du dich in dieser Geschichte wieder und was nimmst du daraus mit?
Das Aufschreiben und Veröffentlichen deiner eigenen Geschichte hilft dir und anderen!
Schicke mir die Geschichte deiner Essstörung an info@lebenshungrig.de, ich veröffentliche sie anonym.
lebenshungrige Grüße
Simone