Die achtundvierzigste Geschichte (d)einer Essstörung

Eine weitere mutige Frau, die ihre Geschichte mit uns teilt:

Ich wurde als Kind immer für meine Figur gelobt. Die Figur hatte ich von meinem Vater (schmal), meine Mutter hatte immer etwas mehr. Sie versuchte viele Diäten. Als ich 13 war hatte sie mal wieder eine gestartet und ich dachte, komm, jetzt hilfst du ihr, indem du mitmachst.

Meine Mutter gab nach einem Tag auf und ich zog es durch, führte Buch. Ab zwölf Uhr gab´s nichts mehr und bis dahin max. 1000 Kalorien. Ich nahm ab bis auf 42 Kg. Bei einer Größe von 1,66 m.

Meiner Mutter fiel es gar nicht auf. Erst als ich an einem Sommertag in kurzen Hosen und ärmellosen Top dastand und sie sagte: “Um Himmels Willen, wie siehst denn du aus?” Ich sagte nur: “Aber Mama, so sehe ich doch schon lange aus!”

Sie schickte mich zum Arzt, der meinte, “das ist doch nicht schön” und meine Mutter machte mir jeden Abend ein Butterbrot mit Essiggurke, da bekommt man wieder Appetit. Also aß ich wieder normal. Dann als ich wieder auf dem Weg zu meinem normalen Gewicht war, sagte meine Mutter: “Du mußt aber aufpassen, dass du nicht dick wirst!”

Mit 16 Jahren sah ich im Fernsehen einen Film über eine Bulimiekranke. Ich stand im Türrahmen und hab ihn angeschaut und dachte: So geht das auch?

Bevor ich mit dem Kotzen anfing habe ich erst (das weiß ich auch noch ganz genau) einen Johannisbeerkuchen mit auf die Toilette genommen, abgebissen, gekaut und ausgespuckt (ohne schlucken).

Dann ging es los.

Ich habe 10 Jahre mit dem Vater meiner Tochter zusammengelebt. Er hat nichts bemerkt, er hat sich gefreut, dass ich so essen kann.

Mit 30 Jahren habe ich mich geoutet und war bei Psychologen. Einer schlief ein, die andere meinte nur, “aber jede Woche nehmen wir 2 Kg zu” ( was für ein Rat), der nächste: “Warum ich überhaupt was ändern will?”

Eine Kur/Reha wurde abgelehnt: Das Problem hat sich verselbständigt. Somit habe ich gedacht: OK, dann ist es eben so und muss wohl so bleiben.

Wir sind eine große Familie mit fünf Kindern gewesen. Meine Eltern waren viel beim Arbeiten und wir haben unsere Aufgaben gehabt. Meine Aufgabe war kochen, meine Schwester war für´s Putzen zuständig. Die Jungs wurden immer schon anders behandelt. Ich will nicht sagen, dass wir nicht geliebt wurden, nur eben anders.

Ich habe meine Eltern kein einziges Mal gesehen, dass sie sich geküsst haben. Habe sie auch nie nackt gesehen.

Mein Vater starb vor 23 Jahren mit 62 an Krebs. Als er krank wurde habe ich nicht mehr zu Hause gewohnt. Ich bin aber jeden Tag nach Hause gefahren und habe es nur geschafft: “Hallo” und “Tschüss” zu sagen, weil ich sonst vor ihm geheult hätte. Als er dann starb habe ich mir Vorwürfe gemacht, dass ich zu wenig getan habe.

2008 versuchte mein Bruder sich das Leben zu nehmen. Auch da habe ich mir Vorwürfe gemacht zu wenig gemacht zu haben.

Ich begann dann neben meiner Bulimie Sekt zu trinken. Erstmal abends um besser schlafen zu können und dann auch tagsüber. Immer nur Sekt (davon kannman auch zuviel trinken). Ich war nie betrunken habe aber meinen Pegel gehalten.

Dann wollte ich endlich eine Reha. Wegen meiner Essstörung. Aber nein, es hieß: erst muss der Alkohol weg auch da habe ich mich geoutet, (was ich niemals mehr tun würde, ich habe keine Entgiftung gebraucht und nichts) In der Klinik wurde gesagt, sie werden mir bei der Essstörung helfen. Es war eine Drogen- Sucht-Klinik. Dort habe ich quasi Fressen und Kotzen können wie ein Weltmeister…

Ich weiß nicht, ob ich mich mit der Bulimie abgefunden habe. Es wäre schön, wenn sie einfach gehen würde.

Wo findest du dich in dieser Geschichte wieder und was nimmst du daraus mit?

Das Aufschreiben und Veröffentlichen deiner eigenen Geschichte hilft dir und anderen!

Schicke mir die Geschichte deiner Essstörung an info@lebenshungrig.de und ich veröffentliche sie hier anonym.

lebenshungrige Grüße

Simone