Die vierzigste Geschichte (d)einer Essstörung

Eine weitere mutige Frau, die ihre Geschichte mit uns teilt:

Liebe Simone, ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll.

Erst einmal möchte ich mich einfach nur bei dir bedanken. Dafür, dass du dieses tolle Selbsthilfeprogramm ins Leben gerufen hast und deine Erfahrungen teilst. Das hat mir alles so unheimlich geholfen.

Wenn ich das Jahr Revue passieren lasse, ist einiges passiert. Und wenn ich an den Anfang des Jahres 2015 zurückdenke, dann ist es ein meilenweiter Unterschied zwischen der Mia* Anfang des Jahres und der Mia Ende des Jahres.

Der Workshop hat bei mir einiges hervorgerufen, mich zum nachdenken und vor allem handeln gebracht. Es ist so viel passiert. Viele Aufgaben habe ich sehr gewissenhaft erfüllt, manchen habe ich keine 100%ige Aufmerksamkeit geschenkt.

Dennoch habe ich aus jeder einzelnen Woche so viel mitgenommen und gelernt. Und ich bin endlich einmal angefangen, etwas in meinem Leben zu ändern.

Angefangen damit, dass ich meine damalige Beziehung beendet habe, weil diese mich einfach aufgefressen hat und ich mir nur einredete, dass ich genau das wollte. Dabei war es eher das Gegenteil, was ich endlich realisiert hatte. Danach folgte dann zwar ein Tief, vor allem weil ich vorübergehend wieder bei meinen Eltern einziehen musste. Zu der Zeit hatte mich meine Essstörung mehr als im Griff und hat meinen Tag bestimmt. Mir ging es wirklich nicht gut, zumal ich nicht wusste, was ich als nächstes tun sollte. Irgendwann war dann auf einmal alles klar, da mir lebenshungrig wieder einmal auf die Sprünge geholfen hatte.

Meine Wohnungssuche begann in einer schönen Stadt ca. 100 km von meinem Heimatort entfernt. Und dort lebe ich jetzt in einer süßen kleinen Wohnung, in meinen eigenen vier Wänden, und es war die beste Entscheidung überhaupt.

Nach meinem stressigen Umzug war ich 2 Wochen im Urlaub, was rückblickend fast die wertvollste Phase meines Genesungsprozesses war. Denn als ich endlich mal runter gekommen bin und meinen Gedanken freien Lauf lassen konnte, fernab vom Alltagsstress, ist mir so einiges bewusst geworden. Ich habe vielen lieben Menschen, die mir mehr als alles andere auf der Welt bedeuten, sehr weh getan, und mir wurde klar, dass es jetzt an der Zeit war, dieses wieder gutzumachen.

Es fiel mir wie Schuppen von den Augen. Ich hatte meine Krankheit endlich akzeptiert und habe offen darüber gesprochen. Mein privates Umfeld konnte mich und mein zum Teil zurückgezogenes Verhalten in den letzten Monaten besser nachvollziehen. Endlich war da wieder das Gefühl von Leichtigkeit und Zwanglosigkeit in meinem Leben. Ich konnte nach und nach all meine offenen Baustellen angehen und mein Verlangen nach Leben stillen.

Im Frühjahr/Sommer habe ich meinen Freund kennengelernt, ein ganz großartiger Mensch, mit dem ich so offen und ehrlich umgehen kann, wie nie zuvor. Ich bin so dankbar, dass mir dieses Geschenk gemacht wurde – dass ich wieder so viel Lebensfreude ausstrahle und gelernt habe, dass ich mich zuerst selber akzeptieren und lieben muss, bevor das ein anderer tun kann. Ich weiß, dass ich jetzt den Mann an meiner Seite habe, den ich von Herzen liebe und bei dem ich zum ersten Mal in meinem Leben so sein kann, wie ich bin. In den vergangen Jahren habe ich mir Dinge mehr eingeredet, als dass ich es wirklich so empfand oder wollte. Dieses Mal fühlt es sich ganz anders an. Als wären Körper, Seele und Kopf in vollem Einklang – ich muss keinem und vor allem mir nichts mehr beweisen.

Zur Krönung habe ich vor einigen Wochen die für mich persönlich wichtigste Entscheidung getroffen – ich bin das Projekt “Traumjob” angegangen. Das hatte zufolge, dass ich meinen Job gekündigt habe und ab Januar 2016 meinem Traumjob nachgehen werde.

Das ist alles so verrückt und ich glaube ich bin ein echter Glückspilz, dass sich alles so gewendet hat und ich wieder stark genug bin, etwas im Leben zu wagen und zu verändern.

Lass mich dir noch kurz über meinen Job erzählen, den ich noch bis Ende dieses Jahres machen werde. Ich habe bei diesem Unternehmen auch meine Ausbildung gemacht und wurde anschließend übernommen. In eine Abteilung, die definitiv sehr interessant ist und in der ich sehr viel gelernt habe. Als rechte Hand von der Geschäftsführung und gleichzeitig aber auch Mädchen für alles, war dieser aber oft sehr hart und hat mich psychisch an meine Grenzen gebracht. Ich habe hier keine Wertschätzung und Anerkennung bekommen, für das, was ich hier jeden Tag leiste, und das hat mich innerlich kaputt gemacht. Dann musste ich noch erfahren, dass meine Vorgängerin auch unter einer Essstörung litt, das Ausmaß bei ihr war jedoch wesentlich schlimmer. Sie musste ein halber Jahr in eine Klinik und hatte neben der Essbrech-Sucht nachher noch eine Magersucht und wog nur noch 30 kg. Das konnte ich GOTT SEI DANK alles vermeiden, mein Ventil war “nur” das kotzen, oft sogar ohne mich vorher zu überfressen. Immer wenn ich einen schlechten Tag hatte, musste ich den Druck irgendwie loswerden und spüren, dass ich die Kontrolle noch über mich hatte. In meiner schlimmsten Zeit passierte das bis zu zweimal täglich. Das war auch die Zeit, in der ich mich im Workshop anmeldete. Seitdem geht es von Tag zu Tag bergauf mit mir.

Seitdem ich meine Kündigung ausgesprochen habe, fühle ich mich frei wie noch nie. Das ist ein Wahnsinnsgefühl und genau diesen Schritt musste ich gehen, um vollständig wieder gesund zu werden. Das spüre ich genau. Ich habe jetzt seit einem Monat nicht mehr gekotzt und nicht mal einen Gedanken daran verschwendet. Ab dem neuen Jahr werde ich endlich einer Tätigkeit nachgehen, in der meine Stärken liegen. Ich bin ein sehr kreativer und kommunikativer Mensch, was in den letzten drei Jahren fast verschwunden war. Ich habe zum Teil gar nicht mehr gesprochen und in meiner eignen Welt gelebt. Das hat sich jetzt um 180 °C gedreht. Ich freue mich auf die neue Herausforderung im Bereich Marketing & Öffentlichkeitsarbeit.

Ich lebe endlich wieder und kann es vor allem wieder in vollen Zügen genießen! Das ist zu einem großen Teil auch dein Verdienst!

Liebe Simone, ich weiß nicht wie ich dir danken soll. Ich würde dich am liebsten ganz fest drücken und dir sagen, dass du ganz großartig bist! Mach weiter so, du gibst dadurch so viel!

Vielleicht hört oder sieht man sich eines Tages mal wieder. Ich wünsche dir von Herzen alles Gute!

*Name geändert

Wo findest du dich in dieser Geschichte wieder und was nimmst du daraus mit?

Das Aufschreiben und Veröffentlichen deiner eigenen Geschichte hilft dir und anderen!

Schicke mir die Geschichte deiner Essstörung an info@lebenshungrig.de und ich veröffentliche sie hier anonym.

lebenshungrige Grüße

Simone