Die siebzehnte Geschichte (d)einer Essstörung

Eine weitere mutige Frau, die ihre Geschichte mit uns teilt:

Meine Kindheit war okay. Wir lebten mit meinem Stiefvater und meinem Halbbruder in einem kleinen Städtchen. Mein leiblicher Vater ließ meine Mutter und mich sitzen, als ich noch nicht geboren war. Er war ihre große Liebe und brach ihr damals das Herz. Leider projezierte sie das auf mich, sie war wenig liebevoll und wirkt bis heute sehr gefühlskalt. Nähe, Liebe und Zuneigung kannte ich nicht. Auch die Beziehung zu meinem Stiefvater glich einer Zweckehe in der Liebe und Wärme ein Fremdwort waren.

Mein Bruder war ein anstrengendes Kind, der Aufmerksamkeit forderte. Ich hingegen funktionierte. Ich war gut in der Schule, kam mit sechs Jahren mittags nach Hause und versorgte mich selbst und ging nachmittags zum Artistik (gleicht in der Disziplin Ballett). Ich war ein Kind, um dass sich nicht oder nur wenig gekümmert wurde. Selbst mein Zimmer lag außerhalb der Wohnung, in der obersten Etage unseres Hauses. Ich fühlte mich nie als Teil der Familie. War viel mit mir allein. Einsam. Probleme wurden totgeschwiegen. Darüber redete man nicht. Ich bekam mit sechs Jahren gesagt, dass mein Vater nicht mein Vater ist und danach wurde das Thema nie wieder angesprochen. Ich mochte meinen Sport nicht, aber das tat nichts zur Sache, denn es wurde nicht darüber geredet. Stattdessen aß ich. Holte mir hier Kuchen und da Brötchen. Ich war nie dick, aber hatte meine Kilos und Rundungen.

Ich kam früh in die Pupertät. Mit elf Jahren bekam ich meine erste Periode und auch meine Rundungen saßen an den richtigen Stellen. Ich wirkte immer älter als ich war und somit wurden Jungs früh auf mich aufmerksam. Mit zwölf Jahren traf ich einen achtzehnjährigen Jungen in der großen Pause. Wir hatten uns vom Schulhof geschlichen, um beim Bäcker nebenan Mittagessen zu holen. Der junge Mann zeigte Interesse an mir und sprach mich offen an. Ich wurde gesehen und bekam Aufmerksamkeit, er machte mir Komplimente. Meine einsame und unbeachtete Seele schrie förmlich nach mehr. Als er mich fragte, ob ich mit ihm mitgehen würde, zögerte ich nicht einen Augenblick.

Ich weiß noch, dass es sehr warm war an diesem Tag. Seine Wohnung war stickig und dreckig. Mir wurde mulmig als wir seine Wohnung betraten, aber ich ignorierte das Gefühl, denn mein Bedürfnis nach Aufmerksamkeit und Nähe war größer. Er bot mir eine “Limonade” an… ich fand, dass sie seltsam schmeckte…

Ich weiß noch, dass ich mit zehn oder elf einen Film über Essgestörte gesehen hatte und nicht verstehen konnte, wie sich jemand so etwas antat. Warum hungerte sich jemand zu Tode? Nach diesem Tag, wusste ich es. Mädchen wie ich tun dies, um zu verschwinden. Um so weniger von einem da ist, desto weniger kann einem weh getan werden. Um so weniger ich bin, umso weniger werde ich gesehen, von Männern. Ich wollte nicht weiblich sein, nicht attraktiv. Nie wieder sollte ein MANN mich sehen, ich wollte verschwinden. Natürlich wurde über “diesen Tag” nicht gesprochen. Ich schwieg. Und Ana (Anorexia) wurde meine beste Freundin.

Innerhalb eines halben Jahres nahm ich 20 Kilo ab. Bis ich zusammenbrach und in eine Psychiatrie eingewiesen wurde. Meine Eltern hatten sich in der Zwischenzeit getrennt, weil meine Mutter ihrem Mann fremd gegangen war. Sie zog aus, mein Bruder blieb bei seinem Vater. Sie war mit sich selbst beschäftigt, wie so oft. Für meine Probleme war kein Platz. Also kam ich für neun Monate in eine Psychiatrie. Familientherapien lehnte sie ab. Ich schwieg weiter.

Als ich entlassen wurde, hatte sie einen neuen Mann kennengelernt. Wir zogen in eine 600 km weit entfernte Stadt. Gespräche führten wir immer noch nicht. Dafür war der neue Mann sehr beschäftigt mit meinem Essverhalten. Ich aß nie richtig. Er zwang mich zum essen. Aß ich nicht, sperrte er mich in meinem Zimmer ein. Meine Mutter sage nichts. Ich auch nicht. Ich gehorchte und aß. Und fing an mich zu übergeben. Ana (Anorexia) bekam eine Spielgefährtin: Mia. Mia (Bulimia Nervosa) teilte fortan unsere Gesellschaft.

Irgendwann trennte sich meine Mutter von diesem Mann. Mia blieb. Mein Leben wurde noch schwerer. Meine Mutter verdiente nicht gut. Es mangelte immer an Geld. Um meine Sucht zu finanzieren, fing ich mit 16 tagsüber in einer Kneipe an zu kellnern. Das Geld was ich da verdiente, investierte ich in Mia. Als es auf den Herbst zu ging, musste ich mir was anderes suchen.

Während der Kellnerzeit hatte ich JR kennengelernt. Er suchte jemanden für einen Messejob. Ich willigte ein und rutschte in das nächste Verderben. Er war 30 Jahre älter als ich. Und schon bei unserem ersten Messetermin buchte er uns ein Doppelzimmer. ‘Weil es günstiger war.’ Ich war dünn, zu dünn und hatte mich in Sicherheit gewähnt. Ich war nicht attraktiv für Männer, meine Taktik hatte vier Jahre funktioniert. Hier hatte sie ein Ende… ich war mit diesem Mann allein in einer fremden Stadt. Er wusste genug von mir, um mich im Griff zu haben und unter Druck setzen zu können. Ich hatte kein Geld und konnte nirgendwo hin. Ich war zu jung und essgestört.

Ich wurde seine Messehostess. Ich begleitete ihn durch ganz Deutschland. Und er bezahlte mich dafür, dass ich mit ihm schlief. Ich fühlte mich dreckig, ekelhaft, benutzt, beschmutzt… ich fühlte mich wie eine Prostituierte. Dass es ein Missbrauch war verstand ich erst viele Jahre später. Ich hasste meinen Körper mehr und mehr. In den drei Jahren dieses – auch gewaltsamen – Missbrauchs, waren Mia und Ana meine einzigsten Verbündeten.

Meine Mutter schaute wieder mal weg. Gesprochen wurde immer noch nicht. Mia und Ana halfen mir. Ana half mir meinen Körper für die Gefühle zu bestrafen. Für meine Ohnmacht mich nicht zu wehren. Und für meine Scham und Schuld. Mia kotzte diese Gefühle wieder aus. Und jedesmal wenn ich alles raus gelassen hatte, fühlte ich mich besser. Immerhin konnte ich so meinen Körper noch kontrollieren. Und dennoch hasste ich mich und meinen Körper. Egal was ich tat, wie wenig ich wurde, wieviel ich auch kotzte, JR blieb und setzte mich unter Druck, erpresste mich. Selbst aus der psychiatrischen Anstalt, in die ich geflüchtet war, holte er mich raus.

Mit 19 brach ich aus. Ich lernte meinen jetzigen Mann kennen, meine Rettung und Sicherheit. Ich zog nach einer Woche zu ihm und warf mein Handy weg. Und hörte nie wieder etwas von JR.

Aber der nagende Schmerz blieb. Mia und Ana auch.

Erst als ich schwanger wurde, durfte mein Körper sich erholen. Er durfte essen, da er nicht mehr nur für mich verantwortlich war. Das nutzte mein Körper aus. Ich wurde dreimal kurz hintereinander schwanger. In der selben Zeit machte ich eine Ausbildung mit Fachabitur und begann ein Studium. Ich forderte mehr und mehr, um nicht an die Vergangenheit zu denken. Ich aß zwar, aber mein Körper verdiente trotzdem keine Ruhe. Meine Kinder sind heute 2, 4 und 5. Mittlerweile habe ich mein Studium so gut wie fertig.

Mit meinem Mann lebe ich in Trennung. Und Mia und Ana bestimmen wieder meinen Alltag. Vier Jahre waren sie klein. Und als ich geglaubt habe, dass sie nicht mehr da waren, schlugen sie wieder zu. Das ist jetzt ein Jahr her.

Vor drei Wochen habe ich mich entschieden bei dem Workshop mit zu machen. Vor zwei Wochen habe ich mit meiner Therapeutin, bei der ich seit vier Jahren in Behandlung bin, das erste mal über die Vergangenheit gesprochen….

Es sind kleine Schritte, die es zu gehen gilt. Und auch wenn Mia und Ana mein Überleben gesichert haben und mir treue Begleiter waren in wirklich schlimmen Zeiten, so wird es Zeit sich von den beiden zu verabschieden.

Wo findest du dich in dieser Geschichte wieder und was nimmst du daraus mit?

Das Aufschreiben und Veröffentlichen deiner eigenen Geschichte hilft dir und anderen!

Schicke mir die Geschichte deiner Essstörung an info@lebenshungrig.de und ich veröffentliche sie hier anonym. 

lebenshungrige Grüße

Simone