Die sechsundzwanzigste Geschichte (d)einer Essstörung

Eine weitere mutige Frau, die ihre Geschichte mit uns teilt:

Viele Essgestörte seien äußerliche „Sonnenscheinkinder“, so beschrieb es einmal meine Therapeutin. Und ja, in dieser Bezeichnung finde ich mich auch wieder.

Aufgewachsen bin ich als 2. (Wunsch-) Kind in einer kleinbürgerlichen Familie. Ich brachte immer gute Schulnoten mit nach Hause, alles schien nach außen perfekt. Innerlich fühlte ich aber schon immer eine seltsame Leere in mir – das kann ich noch heute aus meinen alten Tagebucheinträgen nachvollziehen. Damals war ich 13 Jahre alt.

Mit der Pubertät wurde alles noch schlimmer. Insgesamt bzw. rückblickend schien mein Leben eine einzige Suche nach Anerkennung zu sein. Ich akzeptierte mich nicht, mein Selbstbewusstsein konnte man, zynisch formuliert, bequem unter einem Türspalt hindurchschieben. Während andere Mädchen in meinem Alter begannen, mit Jungs zu flirten, sich die Haare zu färben, hippe Klamotten zu kaufen und die angesagten Bands zu hören, lebte ich immer „hintendran“. Was vielleicht auch daher rührte, dass ich mich bis zur Pubertät wie ein Junge fühlte und auch so lebte. Fußball statt Barbie, abgewetzte Jeans statt buntem Rock. Erschwerend kam hinzu, dass ich, vor allem nach einer schweren Bein-OP im Alter von 11 Jahren, ein „Pummelchen“ war. Da ich mich kaum mehr bewegen durfte, nahm ich rasend schnell 10 kg zu.

Ich träumte davon, wie die anderen Mädchen einen Jungen zu finden, der sich in mich verlieben würde und mich so akzeptierte, wie ich war. Was ich fand war allerdings ein Mann, dessen genaues Alter ich bis heute nicht kenne (er war wohl damals schon weit über 30) und der mich sexuell ausbeutete. Da war ich 14 oder 15 Jahre alt. „Du bist 1.000 DM und 1.000 Küsschen wert, aber nur wenn du lieb bist“, so lautete ein Text seiner SMS, der wohl treffend unsere „Beziehung“ beschrieb.

Ich hatte danach zwar ein glückliches Händchen mit allen nachfolgenden Beziehungen zu Männern, aber der Gedanke, dass ich nur etwas „wert“ bin, wenn ich es versuche anderen recht zu machen, manifestierte sich wohl in mir. Aber das war eigentlich schon in Bezug auf meine Mutter so. Sie engte mich ein, ich musste nach außen das „perfekte“ Mädchen sein. Aber im Kern meiner Seele war ich wie mein Vater – draufgängerisch, abenteuerlustig und unerschrocken. Ausleben durfte ich es damals nicht. So verlernte ich schleichend über Jahre hinweg, meine eigenen Bedürfnisse zu spüren, „Nein“ sagen zu dürfen und einfach „ich selbst zu sein“ – der Keim allen Übels bei vielen Essgestörten, wie ich inzwischen weiß.

Was mich im Leben immer antrieb, war ein ausgeprägter Perfektionismus, den ich in der Schule, in der Uni und im Sport auslebte. Schaffte ich ein Ziel nicht, fühlte ich mich umgehend wie ein Versager. Nur wenn ich etwas leistete, erlaubte ich mir, mich etwas „wert-zu-schätzen“.

Während meines Studiums mit Anfang 20 versuchte ich das ein oder andere Mal aus lauter Frust und Kummer, das Essen zu reduzieren – bis dato hatte ich aber nie Anzeichen eines essgestörten Verhaltens. Es blieb auch bei ein, zwei Episoden ohne (Gewichts-)Folgen.

Mehrmals nahm ich mit der Diagnose „Persönlichkeitsstörung“ und „depressive Episode“ eine analytische Therapie in Angriff, führte über Jahre lang Gespräche, schluckte SSRI – ohne nennenswertes Ergebnis.

Die Abwärtsspirale begann.

Am Ende meines Studiums war meine langjährige Beziehung abgeflacht, wegen des ganzen Stresses während der Diplomphase trieb ich keinen Sport mehr (was ich mein Leben lang immer getan habe) und aß aus Frust, Lust, Langeweile, Kompensation von Gefühlen – Essen wurde zur „Nervennahrung“. Zum Glücklich sein benötigte ich zu dem Zeitpunkt lediglich Berge von Pasta und Sahnepudding.

Langsam, aber sicher ging der Zeiger der Waage nach oben. Das letzte „Projekt“, was mein damaliger Freund und ich erfolgreich angingen, war eine Low-Carb-Diät. Innerhalb kürzester Zeit konnte ich wieder mein Ausgangsgewicht erreichen – aber die Diät sollte niemals enden. Es ergriff mich eine förmliche „Sucht“ danach, noch mehr abzunehmen. Also begann ich wieder mit Sport, denn schließlich musste mein Körper nach dem Gewichtsverlust wieder in Form gebracht werden. Auch ein Kalorienzähler wurde zu meinem neuen Begleiter.

In der Anorexie fand ich eine Möglichkeit, ein neues Selbstbewusstsein zu entwickeln. Komplimente von Arbeitskollegen und Freunden spornten mich an.

Zur gleichen Zeit lernte ich meinen heutigen Ehemann kennen. Alles schien wieder perfekt. Dass ich mir vor dem ersten Date mehr Gedanken über die Kalorien des angekündigten Käse und Weins machte als um alles andere, zeigt, dass eben nicht alles perfekt war. Mein Mann lernte mich schon als Essgestörte kennen – was ihm lange Zeit nicht klar war. An unserer Hochzeit rührte ich keinen Schluck Sekt oder gar ein Stückchen Hochzeitstorte an.

Mein Mann nahm mich mit in sein Fitnessstudio. Fast drei Jahre lang versuchte ich durch exzessives Training mein Traumgewicht von 50 kg zu erreichen – es klappte nicht.
Klar, denn ich trieb gemeinsam mit den Männern vor allem Muskelaufbautraining. Da mir die Zahl auf der Waage aber wichtiger war, stellte ich um auf reines Ausdauertraining, reduzierte weiter das Essen, trainierte auch wenn ich krank war. Bald hatte ich ohnehin auch gar keine Kraft mehr, Gewichte zu stemmen.

Mein Lebensrhythmus war getaktet: Um 5.00 Uhr stand ich auf um für mein Fernstudium zu lernen, von 9.00-18.00 Uhr ging ich arbeiten, danach über 2 Stunden trainieren. So verging Tag für Tag.
Mein Körper verweigerte aber jede Gewichtsabnahme. Irgendwas machte ich also „falsch“.

Heute weiß ich, dass mein Körper aber auch schon im damaligen Normalgewichtsbereich zunehmend kränker wurde. Antriebslosigkeit, schlechte Laune und depressive Verstimmungen machten sich breit. Soziale Kontakte wurden mir lästig. Meine Arbeit, die mir zuvor viel Freude bereitet hatte, ging mir nicht mehr von der Hand. Ich machte Fehler, reagierte zunehmend genervt auf Kollegen, was gar nicht meine Art war. Meine Beziehung begann zu leiden. Ich verharrte in meinem sturen Tagesablauf, der den Dreh- und Angelpunkt meines Lebens darstellte. Das Thema „Essen“ regierte alle Gedanken.

In unserem Karibikurlaub fror ich bei 32 Grad im Schatten, der Pool war mir zu kalt. Mein Körper begann an den Fettreserven zu nagen. Das üppige All-you-can-eat-Angebot und das späte Abendessen lösten eine unglaubliche Panik in mir aus. Um mehr Ausreden zu haben, warum ich dieses oder jenes nicht esse, wurde ich Vegetarierin. Gemüse hatte schließlich weniger Kalorien. Den großen Fitnessraum im Urlaub nutze ich fast jeden Tag. Als wir wieder zu Hause ankamen, kramte ich ängstlich die Waage hervor – aber siehe da, zum ersten Mal wog ich zu meiner großen Überraschung weniger als 50 kg. Mein Körper begann alltäglich zu kapitulieren.

Langsam begann auch mein Umfeld Veränderungen an mir zu spüren. Eines Tages, das war im Januar 2014, nahm mich meine Chefin beiseite und redete Klartext. Sie sagte mir, ihr fiele auf, dass etwas mit mir nicht stimmt. Sie beurlaubte mich vorübergehend. Rückblickend hatte sie mir damit in gewisser Weise das Leben gerettet. Nach dem Gespräch klappte ich zusammen und lies mich bereitwillig von meinem Mann in die Psychiatrie bringen. Damit ging für meine Seele sozusagen „ein Wunsch in Erfüllung“: Endlich hatte ich eine Legitimation, „krank sein zu dürfen“ und erstmal nichts tun zu müssen.

„Geh Du voran“ sagte die Seele zum Körper, „auf mich hört er nicht.“
„Ich werde krank werden, dann wird er Zeit für dich haben“, sagte der Körper zur Seele.
Das ist ein Zitat, das mein „Innenleben“ zu diesem Zeitpunkt gut wiederspiegelt.

Ich wurde in die Tagesklinik aufgenommen. Leider konnte das gesamte Personal dort nichts mit Essstörungen anfangen. Somit wurde es für mich nur noch schlimmer. Da sich die Chefärztin weigerte, mir eine Anorexie zu diagnostizieren, begann ich immer mehr zu hungern. Ich machte mich schlau und vermutete, dass ich aus klinischer Sicht zuerst einem BMI von 17,5 erreichen musste, um als „echte“ Essgestörte zu gelten. Das schaffte ich mühelos innerhalb weniger Wochen.

So war auch kurzzeitig mein Reha-Antrag in Gefahr, denn der Kostenträger wollte mich mit dem entsprechenden Untergewicht natürlich lieber erstmal stationär im Krankenhaus behandelt sehen.
Nur dem unermüdlichen Einsatz meines Mannes und einem engagierten Sozialarbeiter in der Klinik war es zu verdanken, dass ich am Ende doch noch in meine Wunschklinik, der Klinik am Korso, aufgenommen wurde. Ich selbst hätte keine Kraft mehr zu kämpfen gehabt. Ich war am Ende – körperlich und psychisch. Jede Treppenstufe war ein Kraftakt, lesen konnte ich nicht mehr, ohne einen Satz zu vergessen. Die Tage wurden grauer und grauer.

Unter Aufbringen aller Kräfte schaffte ich die 7-stündige Zugfahrt zur Reha-Klinik. Obwohl ich während der gesamten Therapiezeit stark symptomatisch blieb und gerade einmal 2 kg zunahm, spürte ich, dass sich etwas in mir bewegte. Ich bekam wieder Hunger – Hunger auf das Leben. Zwar bedeutete die Therapie auch, dass ich mich mit den unangenehmen Hintergründen meiner Essstörung auseinandersetzen musste, aber ich versuchte, die Hilfe anzunehmen.

Wieder zuhause, verfiel ich allerdings schnell wieder in alte Essmuster. Ich traute mich zwar wieder an mehr Lebensmittel heran, aber das Kalorienzählen begann wieder von vorne. Meine Wiedereingliederung in meinen alten Arbeitsplatz scheiterte bereits nach 3 Wochen. Irgendwas stimmte also noch nicht. Aber was? Stundenlang ging ich spazieren und dachte nach. Ich spürte eine Ziel- und Planlosigkeit. Anfangs hatte ich nur im Kopf, so schnell wie möglich wieder arbeiten zu gehen und ein „normales“ Leben zu führen. Da ich damit kläglich scheiterte, saß ich wieder in einem Loch.

Bis es plötzlich in der Therapie „Klick“ machte. Meine Ernährungstherapeutin fragte mich, welche Gefühle ich spürte, wenn ich mir vorstellen würde, ich säße mit meinem Mann am Tisch und könne wieder ganz gelöst und frei nach Herzenslust essen. „Und jetzt denken Sie mal darüber nach, bei welchen anderen Aktivitäten – abseits des Essens – Sie genau die gleichen positiven Gefühle entwickeln würden.“

Da fiel mir mein geliebtes Motorrad wieder ein, da, von einer dicken Staubschicht belegt, in der Garage stand. Und mit dem Fahren verband ich Gefühle wie „Freiheit“, „losgelöst-sein“ und „Glück“.
Also traf ich einen Entschluss: Ich schnappte mir den Schlüssel, schlüpfte in meine Kombi, die zwar noch bedenklich an meinem Körper schlackerte, und ging zur Garage. Zur Überraschung meines Mannes, der dachte, ich würde nur als seine Sozia mitfahren, versuchte ich die 200 kg schwere Maschine aus der Garage zu bewegen. Meine Arme schmerzten und das Motorrad drohte mir jeden Moment umzufallen. Aber mein Körper mobilisierte ungeahnte Kräfte. Ich hatte es geschafft. Meine erste Tour werde ich nicht mehr vergessen. Es fühlte sich an wie ein kleiner Sieg.

Doch eine wichtige Entscheidung stand noch bevor. Nach vielen weiteren Wochen, die ich wegen meines Untergewichts immer noch im Krankenschein zu Hause verbrachte, wurde mir allmählich klar, dass ich gar nicht mehr zurück zu meiner alten Arbeitsstelle wollte. Mit Menschen zu arbeiten und sie zu beraten, am liebsten im Sport- oder Gesundheitsbereich, war eigentlich mein lang gehegter Traum. Wie vieles andere hatte ich diesen Wunsch aber immer unterdrückt.

Lange haderte ich, aber mit dem Zuspruch meines Mannes kündigte ich schließlich meinen unbefristeten Job als Marketing-Managerin, um nochmal beruflich ganz neu anzufangen.
Seit Januar 2015 studiere ich jetzt an einer dualen Hochschule mit den Schwerpunkten Prävention und Gesundheitsmanagement. Als Fitnesstrainerin und Ernährungsberaterin lebe ich jetzt Tag für Tag meinen Wunsch, Menschen auf dem Weg zu einem gesunden Leben zu begleiten. Für manche mag es paradox klingen, dass ausgerechnete eine ehemalige Essgestörte ihr Berufsleben an der eigenen Krankheit ausrichtet – aber für mich war es die einzig richtige Entscheidung.

War die Magersucht vorher meine beste Freundin und Mitbewohnerin, kommt sie jetzt noch gelegentlich zu Besuch, gerade in Krisensituation. Mein Essverhalten ist immer noch nicht ganz symptomfrei und wird es sicher auch noch einige Zeit bleiben.

Aber ich genieße das Leben wieder mit allen Sinnen, kämpfe jeden Tag aufs neue dafür, meinen Körper im Normalgewicht zu akzeptieren. Meine ehemalige Therapeutin unterstütze ich auf Fachvorträgen, indem ich von meinen Erfahrungen als ehemalige Betroffene berichte. Gerne würde ich auch irgendwann eine eigene Selbsthilfegruppe für Betroffene und Angehörige gründen – das wäre noch ein Traum und Herzensangelegenheit von mir.

Wo findest du dich in dieser Geschichte wieder und was nimmst du daraus mit?

Das Aufschreiben und Veröffentlichen deiner eigenen Geschichte hilft dir und anderen!

Schicke mir die Geschichte deiner Essstörung an info@lebenshungrig.de und ich veröffentliche sie hier anonym.

lebenshungrige Grüße

Simone