Die einunddreißigste Geschichte (d)einer Essstörung

Eine weitere mutige Frau, die ihre Geschichte mit uns teilt:

Ich war 15 Jahre alt, als mein Vater nach einem Schüleraustausch anmerkte, dass meine Oberschenkel doch “recht fest” geworden seien. Dieser Satz brannte sich in meinen Kopf und sollte mein Essverhalten, nein, mein komplettes Leben für die darauffolgenden 10 Jahre völlig auf den Kopf stellen und mir während dieser Zeit einen schier endlos erscheinenden Kampf gegen mich selbst bescheren und mir unendlich viel Lebensqualität nehmen.

Bis zu diesem Zeitpunkt war ich natürlich schlank. Danach achtete ich fortan auf jeden Bissen, der in meinen Körper wanderte, machte Sport, um nicht zuzunehmen. Der ganze Tagesablauf war von Essen, Kalorien und Gewicht geprägt.

Ich wechselte zwischen weißen und schwarz Phasen. Weiß für Hungern und extreme Sporteinheiten, schwarz für essen, essen, essen. In diesen extrem belastenden schwarz-Phasen, in denen mein Selbstwert unterirdisch war, isolierte ich mich, sagte Einladungen ab, weil ich mich schämte, unter Leute zu treten. Auch meine Kleidung passte sich dieser Phase an. So trug ich ausschließlich Röcke und alles in kaschierendem Schwarz. Ich konnte zu keinem Zeitpunkt kaufen, was ich wirklich WOLLTE. Ich wollte nur nicht auffallen, nicht dick aussehen.

Während dieser Phasen schwankte mein Gewicht um bis zu 15 Kilo-Unterschied. Der Satz “Mensch du hast aber wieder abgenommen” fiel so oft, und ich wusste, ich enttäuschte wieder alle, vor allem aber mich, wenn die schwarze Zunehm-Phase kam und die Scham und die Niederlage über mich hereinbrach.

Ich lebte in diesen Jahren völlig an meinem Leben vorbei, ich konnte mir vieles, worauf ich so Luste hatte, nicht erlauben, erst wenn ich (wieder) schlank war.

Meinem Schicksal hatte ich mich schon ergeben, als alte Jungfer zu sterben, denn Männer konnte ich auch gar nicht an mich heranlassen. Erst durch einen schweren Schicksalsschlag in meinem Leben konnte ich nicht mehr anders, als in eine Klinik zu gehen. Das war meine Rettung, der Anfang von einem wunderbaren Weg zu mir selbst.

Mit dem Wissen aus der Klinik, normal und geregelt zu essen, ohne massiv zuzunehmen, eröffnetem sich mir ganz andere Welten. Ich behielt die Regelmäßigkeit bei, hatte dennoch Rückschläge, doch diese wurden sehr viel seltener und ich lernte, was “darunter lag”, nahm meine Gefühle wahr.

Heute höre ich auf meinen Körper, dessen Hunger und Sättigungssignale, habe keine “verbotenen” Lebensmittel mehr, mache Sport im normalen Maß und passe in Jeans, für die ich mich früher über Wochen quälte, jeden Tag anprobierte, ob diese schon lockerer sitzen. Ich gehe bei gutem Wetter spontan an den See zum schwimmen, in die Sauna, ins Eiscafé, es ist nichts mehr verboten (keine Aktivität, keine Lebensmittel). Das bedeutet unendlich viel Freiheit, die ich die ganzen Jahre der ES nicht hatte. Doch sie lehrte mich in meinem Leben wahnsinnig viel.

Also an meine Ex-ES-Freundin, ich möchte dir auf diesem Wege sagen, dass sich unsere Wege hiermit trennen, ich brauche dich nicht mehr in meinem Leben, ich kann alleine für mich sorgen. Du hast mir viel gelernt und beigebracht, aber du hast mich auch viel Kraft gekostet. Auf NICHT MEHR WIEDERSEHEN!!

Wo findest du dich in dieser Geschichte wieder und was nimmst du daraus mit?

Das Aufschreiben und Veröffentlichen deiner eigenen Geschichte hilft dir und anderen!

Schicke mir die Geschichte deiner Essstörung an info@lebenshungrig.de und ich veröffentliche sie hier anonym.

lebenshungrige Grüße

Simone