Die dreißigste Geschichte (d)einer Essstörung

Eine weitere mutige Frau, die ihre Geschichte offen mit uns teilt:

Seit ich denken kann, bin ich Superwoman.

Mit 11 Jahren zwei Brüder und eine depressive Mutter versorgen, den Haushalt schmeißen, funktionieren, es aushalten, dass es von einem Tag auf den anderen keinen Papa mehr gibt. Das schlimme Gefühl in mir tragen, dass ich Schuld bin. Schuld, dass sich meine Eltern getrennt haben, Schuld, dass mein über alles geliebter Papa eine neue Frau hat. Es genügt nicht, was ich tue. Deswegen liegt die Mama tagelang auf dem Sofa und starrt an die Decke. Weil ich wahrscheinlich nicht gut genug bin, als „Mutter“, als ihr Ersatz.

Mit 16 Jahren dann die Befreiung. Ich begann eine Ausbildung als Krankenschwester, bin von zu Hause ausgezogen und hab mein eigenes Leben geführt. Damals bin ich dann der Bulimie begegnet, vor etwa 10 Jahren. Meine beste Freundin hat stark abgenommen, einen Diätplan eingehalten und war rundum glücklich mit sich. Wohlgemerkt war sie nie dick! Ich allerdings war immer etwas pummelig und wollte dann auch so toll aussehen wie sie. Gesagt. Getan. Allerdings hat Ihr Diätplan bei mir nicht so ganz funktioniert. Mein Wille war nicht stark genug. Kannte ich ja von mir. Zu wenig Ehrgeiz – ein klarer Mangel, der mich schon immer begleitet hat. Nach einer Heißhungerattacke habe ich dann das erste Mal gekotzt. Wohooow! Wie einfach es doch auf einmal war. Essen, kotzen und gleichzeitig noch irgendsoeinen – hmmm – Druck abbauen, Gewicht verlieren. Ja, genau. Druck – ein treuer Begleiter, seit ich denken kann. Mal geht es mir besser mal schlechter. Mein Umfeld denkt, ich komme gut klar… .

Am meisten belastet mich mein schlechtes Gewissen. Ich schäme mich, diese Unmengen an Essen in mich reinzustopfen und es danach der Mülltonne zu schenken. Es sind meistens sehr gesunde Nahrungsmittel. Zucker und Weißmehl macht mir Panik und daher kaufe ich meist nur „erlaubte“ Lebensmittel, die mir keine Angst machen, wenn sie im Kühlschrank sind. Letztendlich ist es egal, womit ich mich überesse. Aber ich tue es. Schlechtes Gewissen habe ich auch meinem Umfeld gegenüber: Wenn ich mit meinem Freund zusammen bin geht es mir gut. Ich koche gerne, esse maßvoll und regelmäßig und spüre die Kraft die in mir wächst und die Macht, die das Essen verliert. Es ist etwas ganz normales und ich fühle mich „normal“. Allerdings kann ich nicht damit umgehen, wenn ich allein bin.

Ich kotze manchmal täglich, manchmal nur einmal die Woche. Meistens fresse ich, dann kotze ich und damit drücke ich automatisch den Reset-Knopf. So: nochmal starten, rein und leer mit einem flachen Bauch. Diesmal war es das letzte Mal. Bestimmt.

Oder die andere Variante: Ich leide manchmal unter starken Kopfschmerzen und immer mal wieder unter Migräne. Die Schmerzen und das „nicht mehr funktionieren können“ zwingen mich manchmal so in die Knie, dass ich keinen anderen Weg sehe, als meinen Körper durch Essen und Kotzen auf einen andere Art zu spüren. Gestern habe ich es geschafft, es auszuhalten. Den Kopfschmerz dasein zu lassen und nicht zu fressen. Der Tag war ein richtiges Geschenk!

„Was würdest Du heute tun, wenn du dich bedingungslos lieben würdest?“ fragte Simone kürzlich via Facebook.

Ich würde mir einen Wunsch erfüllen: Meine Geschichte aufschreiben, diese annehmen und anfangen, meinen Lebenshunger zu stillen.

Ich bin mittlerweile 31 Jahre alt. 1,70 groß, 68 Kilo. Nicht schlank, nicht dick. Normal. In den Augen meines Umfelds eine starke, selbstbewusste und kluge Frau. In meinen Augen eine schwache, introvertierte halb-lebendige Puppe. Immer darauf bedacht, alles recht zu machen, zu funktionieren, zuzuhören, da zu sein. Aber nicht einmal das gelingt mir. Ich ziehe mich oft zurück, verstecke mich.

Seit ich denken kann, ist mir das Wohl anderer wichtiger als mein Eigenes. Bezeichnend dafür ist vielleicht auch mein Beruf. Ich bin Krankenschwester. Manchmal hasse ich diesen Beruf, manchmal liebe ich ihn. Aus diesem Grund habe ich im Oktober 2012 begonnen, Pflegepädagogik zu studieren. Raus kommen. Umziehen. Das alte Leben hinter mir lassen. Die Bulimie durch weglaufen besiegen. Etwas wagen, was sonst niemand so einfach tun würde. Das mit dem Weglaufen hat allerdings nicht so ganz funktioniert. War irgendwie klar… . Mein Leben sollte eigentlich spannender werden. Und ganz wichtig: nur nicht zu viel nachdenken und desshalb möglichst viel arbeiten neben dem Studium. Arbeiten als Krankenschwester, unterrichten, nebenbei noch eine ältere Dame versorgen. Und nebenbei wollte ich noch gesund werden und den Onlineworkshop „GEWICHTIG“ machen. Ich habe im Januar voller Elan damit angefangen und es lediglich bis zum vierten Gang geschafft. Die anderen ruhen seither in meinem Mailpostfach. Seit längerer Zeit merke ich, dass es für mich so nicht mehr funktionieren kann. Ich habe bereits zwei Jobs von dreien aufgegeben. Ich habe meine Bachelorarbeit um ein Semester nach hinten verschoben. Ich versuche bewusst, Druck aus meinem Leben zu nehmen. Mir ist außerdem in den letzten Wochen so einiges klar geworden:

Niemand in meinem Umfeld erwartet von, dass ich Superwoman bin. Das war bisher meine feste Meinung, dass es einfach von mir erwartet wird.

Ich bin die wichtigste Person in meinem Leben. Ich will mich wieder kennen lernen, mich spüren, mir vertrauen können.

Ich möchte mir eine Chance geben und den Online-Workshop nochmal von vorn beginnen.

Ich will Leben.

 

Wo findest du dich in dieser Geschichte wieder und was nimmst du daraus mit?

Das Aufschreiben und Veröffentlichen deiner eigenen Geschichte hilft dir und anderen!

Schicke mir die Geschichte deiner Essstörung an info@lebenshungrig.de und ich veröffentliche sie hier anonym.

lebenshungrige Grüße

Simone