Die achtunddreißigste Geschichte (d)einer Essstörung
Eine weitere mutige Frau, die ihre Geschichte mit uns teilt:
Ich habe lange hin- und her überlegt, ob ich mich trauen soll, meien Geschichte hier veröffentlichen zu lassen. Aber wenn ich damit vielleicht irgendjemandem helfen kann, oder sich irgendjemand vielleicht etwas darin wiederfinden kann, dann mache ich es und ich denke es kann einem selbst ja vielleicht auch gut tun, sich das alles einmal von der Seele zu schreiben.
Meine Essstörung fing an, als ich 13 Jahre alt war. Meine Mutter hatte gerade den schrecklichen, aussichtslosen Kampf gegen den Krebs verloren. Ich glaube dadurch, dass ich mich den ganzen Tag nur auf Kalorien und Essen konzentriert habe, habe ich die ganzen, nicht aushaltbaren Emotionen von Trauer und Verzweiflung nicht spüren müssen. Meine Mutter hat für mich alles bedeutet, und durch die Magersucht konnte ich, in einer Welt, in der scheinbar alles völlig unkontrolliert war, und in der man allem einfach hilflos ausgelifert war, wenigstens noch etwas Kontrolle behalten.
Ich hatte in dem Alter noch überhaupt keine Ahnung von gesunder Ernährung oder Kaloriengehalt von Lebensmitteln. Ich fand bei uns Zuhause ein altes, sehr dickes Buch voller Kalorientabellen, in dem die Nährwerte von so ziemlich Allem beinhaltet waren. Vor jeder Mahlzeit versuchte ich die Kalorien möglichst genau zu berechnen, was jedoch nicht ganz so einfach war, denn zumindest abends musste ich mit der Familie essen.
Ich fing an, meinen Vater zu instrumantalisieren, brachte ihn dazu, nur noch magere Hähnchenbrust mit Mineralwasser anzubraten und weigerte mich, etwas mit Fett zu essen. Ich machte am Anfang jedoch viele Fehler, da ich wie gesagt nichts über das Thema wusste und in unserer Familie auch meistens recht gehaltvoll gekocht wurde. Als Frühstück aß ich weiterhin mein Lieblingsmüsli, Banane-Schoko, eine große Schüssel jeden morgen. Auf der 600g Packung stand, dass die Kalorienzahl pro Portion ca. 210 Kalorien betrug. Ganz ok wie ich dachte. Bis ich eines Morgens endlich darauf kam, meine Portion mal zu wiegen. Ich fiel aus allen Wolken. Meine Portion hatte mit Milch beinahe 600kcal! Ich spürte ein schreckliches Gefühl der Haltlosigkeit und Verzweiflung und nahm mir vor ab jetzt alles noch genauer zu berechnen und abzuwiegen.
Ich hatte meistens jeden Tag annähernd das Gleiche zu Essen, wobei es variierte. Als Frühstück hatte ich von nun an nur noch eine Scheibe Toast mit nur einer Spur Honig, um sicher zu gehen, dass es ja nicht zu viel wurde. Mittags war ich mit meiner Schwester allein und machte mir selber etwas, mal aß ich eine halbe Brezel und einen Teller Tütensuppe, mal 5 Ravioli aus der Dose. Auf gesunde Ernährung achtete ich eigentlich gar nicht, es kam nur auf die Kalorien an. Ich entwickelte ein paar sehr merkwürdige, ungesunde Angewohnheiten. Meinen Kaffee süßte ich zum Beispiel mit 33(!) Süßstofftabletten und trank 3/4 der Tasse ohne Milch, bei dem Rest erlaubte ich mir einen kleinen Schluck Milch. Wie ich das damals runter bekommen habe weiß ich nicht mehr. Was mich im nachinein aber wirklich verwundert, ist, dass ich, sobald ich den Entschluss gefasst hatte abzunehmen nicht einmal bewußt über meine für den Tag erlaubten Kalorien kam. Nicht ein einziges mal.
Kein Fressanfall, kein Bissen mehr. Ich wünschte mir, ich wäre heute auch noch so diszipliniert… Ich nahm so sehr viel und konstant ab. Wie das wahrscheinlich das fast jede(r) Essgestörte kennt setzte ich mein Zielgewicht immer niedriger. Erst wollte ich auf 50 Kilo kommen. Dann dachte ich 45 wäre ja noch besser. Dann dachte ich 44 ist eine schöne Zahl. Doch die war so schnell erreicht, dass ich bald die 40 anstrebte… Mein Vater unterstützte das Ganze beinahe noch, indem er, obwohl ich bereits sehr stark untergewichtig war drei mal die Woche mit mir Joggen ging. Meine Schwester reagierte auf das Ganze eher verärgert, wahrscheinlich glaubte sie ich mache das nur um Anderen zu schaden und könnte damit jederzeit aufhören, wenn ich nur wollte.
Sonst bekamen nur sehr wenige Menschen von meiner Essstörung mit. Während der Krankheit meiner Mutter waren wir von vielen verwandten und “Freunden” enttäuscht worde, viele meldeten sich einfach gar nicht, selbst ihre eigene Mutter, meine Oma, kümmerte sich gar nicht um ihre Tochter und kam nicht einmal zu ihrer Beerdigung. An meiner Schule bemerkten am Anfang einige meine Gewichtsabnahme und beglückwünschten mich sogar, aber nach einer Weile ging ich dann gar nicht mehr zur Schule, weil es mir dann doch ziemlich schlecht ging und ich mich oft sehr schwach fühlte. Ich weiß noch, wie ich jeden Morgen auf dem Weg von meinem Bett ins Bad, der Weg beträgt ein paar Meter, zusammen gebrochen bin und erst einmal einige Minuten am Boden lag weil mein Kreislauf die ganzen Strapazen nicht mehr mit machte. Wie ich es trotzdem schaffte, so noch Sport zu machen ist mir heute schleierhaft.
Irgendwann wurde es selbst meinem Vater zu viel, und so meldete er mich in einer Klinik für Psychsomatik an. Bei dem Vorgespräch bemerkte der Chefarzt dort, dass meine Fingernägel ganz blau waren. Ich fror auch immer zu und machte meinen Vater fast wahnsinnig, da ich im Hochsommer ständig die Heizung voll aufdrehte. Er hatte inzwischen schon eine neue Freundin, nur wenige Monate nach dem Tod meiner Mutter, was ich als unmöglich und als Verrat ansah und auch noch heute ansehe (sie sind immer noch zusammen und haben sogar noch eine Tochter, meine Halbschwester). Ich fühlte mich total abgeschoben, als mein Vater, der daheim ja nie versucht hatte mit mir zu reden oder so und mich einfach in eine Klinik schickte, während er seinen Spaß mit seiner Freundin hatte.
Die Klinik war für mich der Horror. Ich war noch nie so lang allein von zu Hause weg und nur um möglichst schnell da wieder raus zu kommen, tat ich das Undenkbare und begann wieder zu essen. Bei mir war das anders als bei den anderen Esssgestörten dort, die alle langsam zunahmen, weiterhin verbotenen Lebenmittel hatten und sich wirklich schwer taten die geforderten 700g pro Woche zuzunehmen (ich war inzwischen bei 37 kg angelangt, mein bislang geringstes Gewicht). Ich bin ein Perfektionist, und wenn ich etwas mache, dann zu 100%. Also fing ich gleich wieder beinahe normal zu Essen an, aß täglich Schokolade und war sobald ich mein Zielgewicht erreicht hatte wieder aus der Klinik draußen. Doch geheilt war ich (zumindest vom Kopf her) noch lange nicht. Zu Hause ging das alles eine Weile gut, ich fühlte mich so gut wie lange nicht mehr.
Doch bald schlichen sich mehr und mehr Ängste ein, die anstelle der Essstörung kamen. Bald konnte ich das Haus gar nicht mehr ohne Angst verlassen und hatte ständig Angst krank zu werden oder mich anzustecken, wodurch ich auch sehr viel in der Schule fehlte und ich auch immer weniger soziale Kontakte hatte. Heute, 10 jahre später, wohne ich bei meinem Vater mit seiner Freundin und meiner Halbschwester, kann das Haus so gut wie nicht mehr verlassen und bin sehr depressiv und denke sehr oft daran, mein Leben einfach zu beenden, da ich einfach keinen Ausweg aus dem Ganzen sehe.
Ich fühle mich, als hätte man mir meine Essstörung, die ja nur mein Versuch war, mit einer unbewältigbaren Situation fertig werden zu können, weg genommen. Als hätte man meinen Willen gebrochen und jetzt hatte ich etwas viel Schlimmeres, oft Unaushaltbares, aus dem ich einfach nicht heraus komme. Doch auch die Probleme mit dem Essen sind noch lange nicht verschwunden. Ein Arzt sagte einmal, ich habe “anorektische Phasen”, in denen ich oft sehr schnell über sehr kurze Zeit abnahm, bis mein Vater und meine Therapeutin mir wieder Stress machten und ich dann auch wieder sehr schnell viel zunahm, oft mehr als vorher.
Seitdem die Ängste nun aber seit einigen Jahren so schlimm sind, scheine ich das mit dem abnehmen gar nicht mehr zu schaffen, was mich total fertig macht. Ich fühle mich wie ein wertloser Versager, gefangen in einem widerlichen, fetten Körper. Ich weiß es klingt bescheuert, aber ich wünsche irgendwie auch, man würde mir mein Leiden wieder mehr ansehen. Wenn man viel zu dünn ist, merken die Leute (oder sollten es zumindest bemerken), dass etwas nicht stimmt.
Aber solang man äußerlich gesund aussieht nimmt keiner die Probleme ernst. Dann heißt es man soll sich zusammen reißen. Dass man alles schafft, wenn man es nur will. Die haben gut reden, da sie so etwas selber nicht kennen. Ich weiß, dass zumindest die Depression um einiges besser wäre, wenn ich es endlich schaffen könnte, wieder abzunehmen. Im Moment ist es so, dass ich es schaffe, ein paar Tage so gut wie gar nichts zu essen, bis ich wieder eine Panikattacke habe, bei der ich dann oft sehr viel esse, da es mich irgendwie beruhigt.
Ich habe das eigentlich schon als Kind gemacht, dass ich mich mit Süßigkeiten voll gestopft habe, wenn ich mich nicht gut gefühlt habe. Das war so extrem, dass meine Mutter sogar die Süßigkeiten weggesperrt hat, weil sie nicht wollte, dass ich immer mehr zunehme. Wenn ich so darüber nachdenke, hatte ich eigentlich nie ein normales Verhältnis zum Essen und werde es, wie ich glaube auch nie haben. In den letzten Jahre gab es fast keinen Tag, an dem ich nicht Kalorien gezählt habe. Wie es mir am Ende vom Tag geht hängt dann meistens von den Kalorien ab, die ich hatte. Waren es zu viele, was eigentlich normal viele heißt, fühle ich mich so verzweifelt, dass es kaum auszuhalten ist. Doch selbst wenn es wenige waren, ist es nie gut genug. Zufrieden mit mir bin ich nie und werde es wohl auch nie sein, aber ich weiß, dass es mir um einiges besser gehen wird, wenn ich wieder dünn bin. Und deshalb werde ich nicht aufgeben, und weiterhin alles tun, um dieses Ziel zu erreichen.
Wo findest du dich in dieser Geschichte wieder und was nimmst du daraus mit?
Das Aufschreiben und Veröffentlichen deiner eigenen Geschichte hilft dir und anderen!
Schicke mir die Geschichte deiner Essstörung an info@lebenshungrig.de und ich veröffentliche sie hier anonym.
lebenshungrige Grüße
Simone