Die erste Geschichte (d)einer Essstörung

Eine weitere lebenshungrige Frau, die ihre Geschichte offen mit uns teilt:

Ich bin 49 Jahre alt und habe seit ca. 30 Jahren Bulimie.

Meine Eltern hatten eine Land- und Gastwirtschaft, es war immer viel zu essen da; es war immer viel Arbeit da, und wenig Zeit. Es war chaotisch zu Hause; wir (ich und meine zwei Geschwister) mussten viel mithelfen. Aber vom Gefühl her war es immer zu wenig, was ich tat. Nie wurde man fertig. Ich war ein schüchternes Kind und ich musste auch öfters im Wirtshaus bedienen. Ich wollte nicht, aber ich musste! Eine Szene ist mir noch in Erinnerung. Da war eine Klassenkameradin mit Ihren Eltern im Wirtshaus und ich sollte sie bedienen. Ich wehrte mich, ich heulte, ich sagte: “Ich kann das nicht.” Ich bekam eine Watschen und mir wurde gesagt ich solle mich nicht so anstellen. Ich weiß bis heute noch, wie verzweifelt ich damals war und keiner hatte mich ernst genommen. Ich hatte zu funktionieren. Das tue ich auch, bis heute noch.

Meine Mutter war eine dicke Frau, aber ich hatte nicht den Eindruck, dass sie mit ihrer Figur unglücklich war. Ich hingegen fing an meinen Körper abzulehnen als ich in die Pubertät kam, als ich einen Busen bekam und meine Periode. Ich wollte nicht erwachsen werden. Ich wollte ein Kind bleiben, für immer…

Irgendwann sind wir (meine Mutter, meine Schwester und ich) zu den Weight Watchers gegangen. Ich nahm ab, und ich bekam viele Komplimente. Ich wurde endlich auch wahrgenommen. Bisher stand immer meine Schwester im Mittelpunkt. Sie war hübsch, fröhlich und unkompliziert. Mit meiner Schwester hatte ich immer so eine Konkurrenzbeziehung. Sie war immer besser! Und plötzlich gab es etwas, wo ich besser war. Das gefiel mir! Ich fing an Mahlzeiten weg zu lassen und aß immer weniger und nahm immer mehr ab.

Die ganzen Frauen-Freundschaften, die ich in meinem bisherigen Leben hatte waren immer von diesem Konkurrenzdenken überschattet. Zu meiner Schwester habe ich heute auch noch ein eher kompliziertes Verhältnis. Ich mag sie sehr aber irgendwie steht etwas zwischen uns.

Irgendwann bekam ich jedenfalls einen wahnsinnigen Heißhunger und stopfte alles in mich hinein, es war auf irgendeinem Fest. Ich war total schockiert – und dann kotzte ich alles wieder raus – fühlte mich befreit von dem ganzen Essen. Das war der Anfang…

Ich habe dann Therapien gemacht in Kliniken, in denen ich aber immer nur das mit dem Essen in den Griff bekommen habe. Ich habe diese Therapien wie alles in meinem Leben durchgezogen, ich habe brav mitgemacht. Das kann ich ja ganz gut, mich anpassen und mitmachen; das zu machen was man von mir erwartet. Natürlich hat das nicht lange gehalten. Ich dachte damals ich gehe jetzt in eine Klinik und die machen mich dann gesund. So war das dann auch später als ich aus der Klinik entlassen wurde; ich machte mit einer ambulanten Gesprächstherapie weiter. Ich dachte ich gehe dahin, und die Therapeutin macht mich gesund. Aber so funktioniert das nicht.

Später dann, ich war längst von daheim ausgezogen, lernte ich einen tollen Menschen kennen. Der gab Eurythmie-Kurse und Massagen.  Er bot mir dann an mit ihm zu arbeiten und dadurch meine Essstörung loszuwerden. Diese Körpertherapie wurde sogar von der Krankenkasse übernommen. Ich machte mit ihm Körperwahrnehmungsübungen, wurde massiert, wir machten Ballspiele in einer Gruppe. Im Nachhinein muss ich sagen, wenn ich damals offener gewesen wäre und mich darauf wirklich eingelassen hätte, dann hätte ich es schaffen können. Aber ich hatte so eine riesige Angst, vor was kann ich gar nicht so genau sagen; ich habe immer noch Angst, wahrscheinlich die Angst vor dem Leben. Die Angst vor Veränderung. Ich habe es auf jeden Fall wieder nicht geschafft.

Ich führte dann eine Zeitlang ein wildes Leben, ich ging viel weg, hatte viele Beziehungen, aber meine Bulimie hatte ich immer noch.

Dann lernte ich meinen jetzigen Mann kennen. Er wurde zum wichtigsten Menschen in meinem Leben. Ich liebe ihn sehr und will mit ihm alt werden. Unsere Beziehung musste durch meine Krankheit schon sehr viel aushalten. Aber er ist bei mir geblieben, bis heute. Wir haben mittlerweile zwei Kinder.

Eine gute Mutter war ich meinen Kindern nicht, ich konnte ihnen nicht das geben, was sie brauchten. Sie mussten auch funktionieren, so wie ich. Ich liebe meine Kinder sehr, aber ich war keine liebevolle Mutter. Mir tut das selber weh. Schlimm wurde es als meine ältere Tochter in die Pubertät kam; mittlerweile haben wir aber wieder ein wesentlich besseres Verhältnis und teilweise ganz gute Gespräche miteinander.

Ich hatte dann auch zwischendrin Phasen in denen ich ganz diszipliniert gegessen habe, täglich zwei Stunden Sport machte und es mir vom Essen her gut ging. In diesen Zeiten habe ich auch wahnsinnig viel gearbeitet. Ich hatte einen 30Stunden-Job an der Uni im Büro, ging nebenbei abends noch bedienen; arbeitete zeitweise auf dem Oktoberfest und verschiedenen Festivals; machte Umfragen und war auch als Wahlhelferin aktiv. Nebenbei machte ich noch den Haushalt und die Kinder. Ich knalle mich mit Arbeit und Sport zu. Ich funktionierte total gut. Ich bekam Anerkennung, weil ich so viel machte und weil ich so durchtrainiert war. Ca. zwei Jahre lang war ich so durchtrainiert und schlank und bekam wieder viele Komplimente. Aber irgendwann hab ich dann doch wieder mit den Fressanfällen angefangen. Es ist schon wirklich so, dass man wenn man eine Diät macht, so ein Ziel im Kopf hat. Wenn man dieses Ziel dann erreicht hat; ist es schon toll. Aber dieses Gefühl hält nicht ewig.

Es ist immer noch so, dass ich mein Selbstvertrauen von meinem Gewicht abhängig mache.

Wenn ich zu viel wiege dann will ich nicht weggehen, nicht unter Leute, dann habe ich keine Lust mich schön anzuziehen, dann gefällt mir auch nichts an mir. Wenn ich zugenommen habe, dann fühle ich mich als Versagerin. Es ist ja auch so, wenn man abnimmt bekommt man Komplimente, wenn man zunimmt sagt keiner was. Mein Gewicht schwankte in den letzten Jahren immer zwischen 62 und 70 kg. Momentan sind es wieder 70 kg. Ich will abnehmen. Wenn ich 65 kg wiege dann bin ich zufrieden. Mehr will ich ja gar nicht. So denke ich gerade. Loslassen kann ich nicht ganz.

Vor kurzem bin ich auf die lebenshungrig-Seite von der Simone gestoßen. Ich war begeistert. Habe das Gefühl, genau so kann es funktionieren gesund zu werden. Vor zwei Wochen habe ich mich bei GEWICHTIG angemeldet. Ich fing wieder an alles perfekt machen zu wollen, die erste Woche ging es mir dann mit dem Essen auch ganz gut. Dann ein Rückfall. Habe versucht mich nicht zu verurteilen, den Rückfall als Botschaft zu sehen. Fällt mir aber sehr schwer, war aber auch befreiend.

So mache ich mich jetzt auch auf den Weg zu mir. Ich freue mich auf diesen Weg. Und ich weiß auch tief in mir, dass ich es irgendwann schaffen werde und gesund werde.

Wo findest du dich in dieser Geschichte wieder und was nimmst du daraus mit?

Das Aufschreiben und Veröffentlichen deiner eigenen Geschichte hilft dir und anderen!

Schicke mir die Geschichte deiner Essstörung an info@lebenshungrig.de und ich veröffentliche sie hier anonym. 

lebenshungrige Grüße

Simone