Warum Verzeihen ein Bestandteil des Heilungsprozesses ist

Vor einigen Tagen habe ich mich online nach Neuerscheinungen zum Thema Essstörungen umgeschaut und dabei diverse Rezensionen gelesen. Eine Rezessentin ist mir dabei besonders ins Auge gefallen. Sie war die Einzige, die ein bestimmtes Buch relativ schlecht bewertete.  Ihr Argument für die negative Bewertung war, dass die Autorin das Buch ihren Eltern gewidmet hatte. Die Rezessentin war der Meinung, dass das doch ein absolutes No Go sei, da die Eltern schließlich einen großen Anteil an der Entstehung der Essstörung gehabt hätten. Neugierig geworden klickte ich weitere Rezensionen von ihr an und entdeckte eine weitere negative Bewertung mit der gleichen Begründung.

Das Dilemma mit dem Verzeihen

Wenn du dich mit deinen Essstörungen auseinandersetzt und dich auf Ursachensuche begibst, werden deine Eltern zwangsläufig Thema werden. Und wahrscheinlich auch diverse andere Menschen, denen du in deiner Kindheit mehr oder weniger hilflos ausgeliefert warst. Und ja, du wirst dich an viele Situationen und/oder Dauerzustände erinnern, die dich verletzt oder beschämt haben. Du wirst wütend werden, du wirst traurig sein. Und vielleicht wirst du deine Eltern konfrontieren.

Aber irgendwann wird der Moment kommen, an dem du sie verstehen wirst. Du erkennst ihre Hilflosigkeit und Überforderung und begreifst, dass sie es einfach nicht besser konnten. Dir wird bewusst, dass auch deine Eltern ihre eigene Geschichte haben, auch sie waren einmal hilflose Kinder. Wenn du das begreifst, bist du auch bereit zu verzeihen. Du musst nicht gut finden, was sie getan haben, du musst sie nicht in Schutz nehmen, du musst nicht mal mehr Kontakt zu ihnen haben – aber du solltest ihnen verzeihen. Verzeihen heißt, zu akzeptieren was war. Verzeihen heißt, den sinnlosen Kampf gegen die Vergangenheit zu beenden. Verzeihen bedeutet, heilen zu können.

Verzeihen heißt frei sein

Wenn du ihnen verzeihen kannst, kannst du dir auch selbst vergeben, was du dir jahrelang angetan hast. Nur dann kannst du dir verzeihen, dass du auf deine Weise fortgeführt hast, was sie begonnen haben. Nur dann kannst du dir verzeihen, dass du immer wieder Dinge getan hast, obwohl du wusstest, dass sie nicht gut für dich sind.

Wenn du verzeihen kannst, bist du frei und bereit für ein Leben ohne Essstörungen.

Verzeihen, wie geht das?

Die Workshopteilnehmerinnen unter euch wissen, dass ich ein großer Fan der Umkehrmethoden (z. B. The Work von Byron Katie) oder Spiegel- bzw. Resonanzgesetze bin. Kerngedanke des Ganzen ist, dass – egal wie sich mein Gegenüber verhält – der Ausgang der Situation immer auch etwas mit mir zu tun hat. Oder wie das Sprichwort schon sagt: Wie man rufet in den Wald, so es einem entgegen schallt. so kann Verzeihen funktionieren:

Raus damit, und zwar schriftlich: Schreibe der Person, der du verzeihen solltest, einen bitterbösen Brief. Schreibe sämtliche Verletzungen die dir zugefügt wurden heraus und beschönige nichts.

Suche dir eine Aussage, einen Vorwurf, aus dem Brief heraus und schreibe ihn auf ein anderes Blatt. Dein Satz könnte z. B. “Du hast mir nie eine eigene Meinung gelassen!” lauten.

Schreibe jetzt auf, wie es sich anfühlt, diesen Satz, diese deine Wahrheit, zu glauben. Wie geht es dir damit?

Schreibe als nächstes auf, wie du dich bisher verhalten hast, weil du diesen Satz geglaubt hast. Wie  hast du dich dieser Person und auch anderen Personen gegenüber auf Grund deiner Wahrheit verhalten?

Stelle deinen Satz nun um. Setze dabei “ich” an die Stelle der Person und schreibe den Satz in der Gegenwartsform auf. Mein Beispielsatz lautet dann: “Ich lasse mir nie eine eigene Meinung!”

Nimm dir zwei bis drei Minuten Zeit mit diesem Satz, “fühle” in ihn hinein, ist er nicht genau so wahr, wie der erste Satz? Um bei dem Beispielsatz zu bleiben: Ist es nicht so, dass ich ständig auf andere Menschen höre und kaum auf mich?

Schreibe kurz auf, wie es sich anfühlen würde, wenn es nicht so wäre. Wie würde es sich z. B. anfühlen, wenn du häufiger auf dich  und weniger auf andere hören würdest?

Schreibe auf, wie du handeln, was du tun würdest, wenn du z. B. häufiger auf dich und weniger auf andere hören würdest.

Welches andere “Ergebnis” würdest du erzielen, wenn du z. B. häufiger auf dich und weniger auf andere hören würdest?

Hast du jetzt die Bereitschaft, der anderen Person und dir selbst zu verzeihen, weil ihr es beide einfach nicht besser machen konntet? Beachte dabei bitte, dass hier “Bereitschaft” steht. Das heißt nicht, dass du sofort verzeihen musst. Sondern es heißt, dass du bereit bist, zu verzeihen. Als Symbol für deine Bereitschaft verbrenne den Brief feierlich.

Wie siehst du das mit dem Verzeihen in Bezug auf deine Essstörung?

lebenshungrige Grüße

Simone