Über Essstörungen, Komplimente und Leistungen

Vor einigen Tagen habe ich eine sehr nette Mail von einem alten Freund bekommen. Er hat darin ganz überschwänglich meine beiden Websites und dass, was ich damit bezwecken möchte, gelobt. Meine erste Reaktion darauf zu antworten war: „Vielen Dank, aber…“ Auf dieses aber wären dann Dinge gefolgt, die meine Leistungen relativiert und meine Absichten geschwächt hätten.

Allerdings habe ich gerade ein tolles Buch gelesen und zwar Lean In: Frauen und der Wille zum Erfolg (Affiliate-Link zu Amazon.de) von DER “Facebook-Frau” Sheryl Sandberg.

Leistungen

Über das Thema Leistungen schreibt sie darin, dass mehrere Studien darauf hinweisen, dass Frauen ihre Leistungen in der Regel auf Glück, günstige Umstände und die Hilfe anderer Menschen zurückführen. Männer hingegen schreiben Leistungen meist sich selbst zu. Und auch im Buch von Ursula Nuber “Wer bin ich ohne dich?” (Affiliate-Link zu Amazon.de) zum Thema Frauen und Depressionen, habe ich etwas Ähnliches gelesen.

Nun sind das natürlich Verallgemeinerungen, die nicht zwangsläufig auf alle Männer und alle Frauen zutreffen. Aber auf die Frauen mit Essstörungen, mit denen ich bisher näheren Kontakt durch z. B. das Telefoncoaching hatte, trifft es definitiv zu.

Einige von euch leisten qualitativ und quantitativ unglaublich viel und doch könnt ihr eure Leistungen kaum anerkennen bzw. neigt dazu, sie zu relativieren. Maja Langsdorff schreibt in Die heimliche Sucht, unheimlich zu essen  (Affiliate-Link zu Amazon.de) “Besonders charakteristisch ist für Ess-Brech-Süchtige der hohe Anspruch an sich selbst und die abgrundtiefe Angst, sie könnten sich vor anderen eine Blöße geben und damit als “schwach” und “makelbehaftet” dastehen. Die verbreitete Annahme, Süchtige müssen labile Persönlichkeiten und schwache Charaktere sein, trifft auf essgestörte Frauen nicht zu. Sie erscheinen ausgesprochen willensstark, zielstrebig, selbstbeherrscht und ehrgeizig. … Aus einem psychisch bedingten Minderwertigkeitsgefühl heraus entwickeln sie einen unglaublichen Perfektionismus.”

Um diesem Perfektionismus gerecht zu werden, wollen wir dünn und schön sein aber auch noch Unmögliches leisten – um es dann wieder zu relativieren. Warum tun wir das? Sheryl Sandberg berichtet im o. g. Buch über ein interessantes Experiment: Die Lebensgeschichte einer erfolgreichen Unternehmerin wurde einer großen Gruppe Studentinnen und Studenten vorgetragen. In einer Gruppe hieß die Unternehmerin Heidi, in der anderen Howard. Die Unternehmerin wurde also für diese Gruppe zum Unternehmer gemacht. Danach bekamen beide Gruppen einen Fragebogen über Howard bzw. Heidi. Dort wurde z. B. gefragt, ob Heidi/Howard als Vorbild gesehen wird etc. Das Interessante am Ergebnis war: Zwar empfanden beide Gruppen sowohl Howard als auch Heidi als Vorbild. Allerdings bewerteten die Studenten und auch die Studentinnen Heidi als weniger sympathisch etc. Mit anderen Worten: Männer und Frauen reagieren auf Grund ihrer Sozialisation auf männlichen Erfolg deutlich positiver als auf weiblichen. Oder wie ich es gerne sage: Schönheit ist für Frauen weniger gefährlich als Klugheit und Erfolg… Und das erklärt auch das Verhalten von Frauen mit Essstörungen: Wir setzen Schönheit an erste Stelle, weil wir es als wichtig und weniger gefährlich empfinden. Danach kommt Leistung. Aber selbst, wenn wir Unglaubliches leisten, neigen wir dazu es zu relativieren, damit wir von anderen nicht als unsympathisch und “bossy” wahrgenommen werden.

Aber so lange ihr nicht lernen, eure Leistungen zu sehen und sie euch selbst zuzuschreiben und nicht mehr das Unmögliche von euch zu verlangen, so lange werden euch die Essstörungen „treu“ sein. Und auch erst, wenn viele Frauen zu ihren Leistungen stehen, wird es irgendwann normal und nicht mehr unbewusst negativ bewertet werden.

Kürzlich schrieb mir eine von euch: „Ich habe einen Vollzeitjob und schreibe gerade meine Master-Arbeit und dann noch diese Probleme mit dem Essen…“ Der Wunschgedanke dahinter lautet: Wären doch die Essstörungen endlich weg, könnte ich „funktionieren“. Aber so geht es leider nicht. Denn die Essstörungen sind da, weil sie sagen: „Deine Ansprüche an dich selbst sind unerreichbar hoch!“ Und dann telefonierte ich kürzlich mit der Mutter einer Zweijährigen die sich gerade selbständig gemacht hatte. Ihre Worte waren: „Ich bin noch nicht lange selbständig und habe schon einige Kunden, aber was ist, wenn die nicht mehr wieder kommen? Und wenn ich frei habe, schaffe ich es nicht, die ganze Zeit mit meinem Kind zu spielen. Dazu noch diese Essstörungen.“ Auch hier sind die eigenen Ansprüche das Problem, auf das die Essprobleme hinweisen.

Und so viele von euch machen mit und durch den Workshop Fortschritte. Wenn ich sie darauf hinweise, dass sie dabei sind, ihren Weg raus aus den Essstörungen zu gehen lautet die Antwort häufig: „Ja, aber…“

Ich jedenfalls habe meinem Freund per Mail einfach mit „Dankeschön“ geantwortet und übe mich darin es auszuhalten, das „aber“ wegzulassen…

Welche Verbindung siehst du zwischen deinen Leistungen und den Essstörungen und wie gehst du mit Komplimenten um, die sich auf deine Leistungen beziehen?

lebenshungrige Grüße

Simone