„Standortbestimmung einer Frau mit Bulimie“

mit den folgenden Worten ist eine von euch meinem Aufruf gefolgt und hat uns ihre Geschichte aufgeschrieben:

Hallo Simone,

ich schreibe dir gerne meine Geschichte. Vielen Dank für deinen Blog!!! Ich lese jede Woche und das hilft mir Geduld zu behalten zu bleiben. Über dich hab ich auch zu OA gefunden – was mir auch gut tut. Weiter so =) und vielen Dank!

(D)eine Geschichte

Wie geht es mir gerade mit Bulimie?

Ich bin voll auf dem Weg und mitten im Prozess. Auf und ab – ich versuche meinen Weg zu finden, treffe Entscheidungen, schaue hin, lese Bücher, mache Therapie, gehe in eine Selbsthilfegruppe, schreibe viel auf, mache Körperwahrnehmungskurse – versuche mir mein Leben zu gestalten und offen zu bleiben für das was kommt.

Die Symptome sind nach wie vor rege da. Ich tu auch andere Dinge die mir nicht gut tun. Ich kanns noch nicht loslassen – Beziehungsbesessenheit, Rauchen, das Gegessene wiederkäuen, unausgewogen essen, so Essen, dass ich nachher Blähungen und Bauchweh habe – viel auf einmal, schnell, viel rohes Gemüse, Vollkorn, Bohnen.

Ich habe das Gefühl einige Themen zu kennen, die – in Bezug auf die Bulimie – noch weiter bearbeitet werden wollen. Meine interne Selbstzermarterung bzw. mein Selbstwert, mich akzeptieren, eine Platz im Leben finden, tun was ich gerne tue bzw. Herausfinden was ich wirklich gerne tue, auf mich hören lernen, mir meine Zeit so gestalten wie mir das gut tut, Körperwahrnehmung fördern…

Damit mit geht es mir mal so mal so. Natürlich tun mir die Symptome der Bulimie im Moment nicht gut, ich fühl mich schlecht, aufgeschwollen, habe Schmerzen im Bauch, schlafe schlecht, kann mich nicht konzentrieren, bin so subdepressiv, funktioniere mehr oder weniger, verliere mich, bin klammrig, flüchte vor mir, trinke Alkohol… Aber es gibt auch Phasen, manchmal nur Stunden in denen es mir gut geht, wo ich gelassen bin, wo ich die Schönheit der Welt sehe, lachen kann, in einen wohltuenden Arbeitsflow komme, Ideen habe, Projekte entstehen, ausprobiere, liebe und sogar sehr selten, aber doch manchmal – zufrieden mit meinem Körper bin.

Welche Fortschritte habe ich gemacht?

Diese Frage überfordert mich etwas. Ich setze mich seit 8 Jahren intensiv mit dieser Bulimie auseinander, mache seit 8 jahren Therapie und habe schon 4 Klinikaufenthalte hinter mir. Dabei habe ich etliche Teilschritte gemacht.

Ich kann von keinem Thema wirklich sagen, dass ich es bis zur Vollendung gebracht habe. Die meisten wirklich wichtigen Themen haben so einen zyklischen Charakter – die kommen immer und immer wieder. Andere habe ich unglaublicherweise lange völlig zu verdrängt – z.B. Körperakzeptanz – indem ich jahrelang behauptete mit meinem Aussehen kein Problem zu haben. Einige sind auch erst während dieser Zeit entstanden, z.B. Probleme konzentriert zu arbeiten/lesen.

In den ersten Jahren war ein wichtiger Teil, dass ich mich begonnen hatte von meinen Eltern abzugrenzen, konnte früh von zuhause ausziehen, weil ich die Unterstützung von meinen Therapeuten hatte. Das war für mich persönlich sicher ein wichtiger Schritt. Der aber noch lange nicht abgeschlossen ist. Gewisse Muster hab ich erkannt und gelernt zu verändern. Zum Beispiel eine Erkenntnis die ich vor 4 Jahren in einer Klinik hatte: Mein Vater wurde, als ich sieben Jahre alt war, sehr krank und die ganze Aufmerksamkeit der Familie hat sich auf ihn konzentriert. Ich war das Sonnenscheinchen der Familie – ich war „herzig“, hatte gute Noten, habe immer brav mitgeholfen, war anständig bei Besuch, nett zu Gleichaltrigen, überall gut akzeptiert – sprich: ich bin ziemlich untergegangen. Was ich gelernt hatte zuhause ist: Wenn man krank ist hat man ganz viele Rechte und ganz viel Aufmerksamkeit. Weiss Gott hab ich mir die Bulimie nicht ausgesucht – das ist „über mich gekommen“ – aber sie erfüllte einen Funktion. Ich wurde wahrgenommen, indem ich genau das tat von dem meine Eltern die ganze Zeit träumten: ich hatte die totale Kontrolle übers Essen. Es ist mir schon nach kurzer Zeit nicht mehr schwer gefallen zu meiner Bulimie zu stehen, so was wie Heimlichkeiten gabs eigentlich bei mir nicht. Eher im Gegenteil: ich musste lernen bestimmte Dinge nicht so ins Zentrum zu stellen und die Bulimie ganz bewusst nicht mit so vielen, so häufig zu besprechen.  Ja, ich habe gelernt mich über andere Dinge als über die Bulimie zu definieren.

Allerdings ist mir schon wichtig zu sagen, dass ich nicht nur bei der Therapie gelernt habe. Manches wurde mir einfach so im Laufe meines Lebens angeschneit, ich hatte prägende Begegnungen, die mich weiter brachten. Während einer Reise hat mich eine Freundin gelernt, grosszügiger mit mir selbst umzugehn, Geld für Freuden und Genuss auszugeben. Seit dem bin ich weniger geizig mit mir selbst und kann mir besser was gönnen. Eine ehemalige Mitbewohnerin hat zu mir als erste Person gesagt hat: „Du bist gut, so wie du bist. Egal wie‘s dir geht, ich freu mich, wenn du dabei bist.“ Das hat mich tief berührt, ich realisierte, dass das noch nie zu mir gesagt wurde und das ich auch nicht so gegenüber mir selbst empfand. Ein ehemaliger Lehrer, dem ich E-Mails schreiben durfte, hat mich gelernt meinen Selbstmitleidigen Teil zu akzeptieren und ein Teil meiner Scham abzubauen.

Das sind einige ausgewählte Begebenheiten, mir würden noch viele einfallen, …

Wie gehe ich mit Rückfällen um?

Unterschiedlich. Früher war jeweils die totale Katastrophe angesagt und ich bin zu meinen Eltern gerannt, hab Bäche geweint, beschuldigt, mich einschliessen lassen und Horrorszenarien kreiert. Heute ist ganz anders: Eine Zeit lang hab ich nach jedem Rückfall ein Rückfallprotokoll geschrieben. Jetz nur noch, wenn ich Kraft hab und nicht verstehe was passiert ist. Dabei beantworte ich folgende vier Fragen:

–        „Wann war der „Point-of-no-returne“?“

–        „Welche Gefühle/Bedürfnisse habe ich unterdrückt?”

–        „Wie hätte ich anders mit dieser Situation umgehen können?“

–        „Worin liegt diesmal die Chance um weiterzukommen?“

Manchmal passieren Rückfälle in die Bulimie einfach und ich mag nicht hinsehen, probiere mich wieder auf Anderes zu konzentrieren, zu sagen “Ja – aha – ich habe Bulimie – eine Krankheit – ojee.“, um dann mein sonstiges Programm einzuhalten.

Welche Befürchtungen habe ich in Bezug auf die Bulimie?

Ich habe manchmal Angst, dass ich auf einem Irrweg laufe. Dass all die Anstrengungen, all die Auseinandersetzung mit der Bulimie und den Ursachen umsonst ist. Ich fühl mich häufig hin und her gerissen zwischen X-Theorien – Tiefenpsychologie, Lösungsorientierte Therapie, Alltagspsychologie, verschiedenste Ernährungsrichtlinien, Spirituelle Ansätze, verschiedenste Erfahrungsberichte, Autosuggestionen, Hypnose, Familientherapie, Fluchtversuche, Gruppentherapie, Systemische Therapie. So viele Menschen sagen so viele Dinge darüber wie man mit Bulimie umgehen soll – und einige, dass weiss ich inzwischen – haben mich nicht weiter gebracht, wenn nicht gar geschadet. Was tut mir wirklich gut? Was hilft mir weiter? Ich weiß es schlichtweg erst, wenn ich es ausprobiert habe. Und ich habe schon so Vieles ausprobiert und bin noch immer mit Bulimie unterwegs.

Welche Hoffnungen habe ich?

Ich habe die Hoffnung einmal bei mir anzukommen. Ich habe die Hoffnung für mich sorgen zu können, dass zu tun was mir gut tut, so zu mir zu schauen das Anstrengendes und Freudvolles ausgewogen sind, bewusst und achtsam in die Welt zu schreiten und mich in gewissen sicheren Momenten und Orten fallen lassen zu können. Dabei werden meine Körpersignale immer deutlicher und ich höre darauf. Ich habe dann gelernt zwischen Gefühlen / Emotionen und Empfindungen / Körpersignalen zu unterscheiden. Ich spür wenn ich Hunger hab, wenn ich satt bin und ich geniesse jeden Bissen den ich esse – und ich kann alles essen – eben genau das worauf ich Lust habe. Ich habe die Hoffnung, dass ich lerne mit mir, so wie ich gewachsen bin, so wie meine Prägung ist, so wie meine Veranlagung ist, so wie meine Tagesverfassung ist, wohltuend umzugehen. Ich habe die Hoffnung mich Veränderndem anpassen zu können und immer wieder neu zu wissen wer ich bin. Ja, und ganz die zu sein, mir ihr den ihr gehörigen Raum einzunehmen, mit allen Stärken wirken und mit den Schwächen lächeln.

Ganz herzlichen Dank für das Teilen dieser Geschichte!

Welche Gemeinsamkeiten hat sie mit deiner Geschichte und wann schickst DU mir DEINE?