Kathrins Genesungsweg Teil 2: Erkenntnisse
Meine Erkenntnisse
Sicherlich war das alles schillernd nach außen, aber langsam pellte sich der Wunsch heraus, dass ich endlich wieder leben wollte und mir kam die Erkenntnis, dass die Essstörungen mir über mein Leben offensichtlich einiges zu sagen hatte, sonst wären sie nicht da, bzw. wären sie nicht über die Jahre immer wieder erschienen.
Seit Jahren wusste ich nicht mehr was es hieß, einfach nur mal auf dem Sofa zu sitzen und mich zu entspannen. Denn selbst wenn ich Zeit hatte (ganz so oft kam das zwar nicht vor, aber es gab einige Momente), war in mir überhaupt keine Kraft mehr vorhanden, mich auf mich selbst oder meine Lebensfreude zu konzentrieren. Ich machte mich eher für die nächste Runde bereit, die vor mir stand – bereit für neue Vorträge, Präsentationen für meinen Doktorvater, für neue Meetings, für Seminarpläne, für die Stiefkinder, ihre Freizeit und ihr gesundes leckeres Essen, damit keiner mosert (vor allem deren Mutter).
Leben heißt für mich heute arbeiten und mir Zeit für mich selbst nehmen, z.B. Sport treiben, mich um meine Gesundheit kümmern, kochen, Freunde treffen, ausgehen, ins Kino gehen, handarbeiten, Bücher lesen, auch solche, die keinen weiteren Sinn haben, außer sich an ihnen zu erfreuen (versus wissenschaftliche Literatur), spazieren gehen usw. Auf die Erfolge der letzten Jahre endlich von außen blickend fiel mir auf, dass eigentlich nichts von dem, was ich machte mich wirklich noch mit Freude fesselte. Das war alles nicht ich. Da war kein wirklicher Spaß mehr an der Arbeit, keine Freude wenn ich an mein Promotionsthema dachte, keine wirkliche Glückseligkeit (mehr), wenn ich die Familienumstände, unter denen ich lebte, betrachtete. Es dauerte eine Weile, mir eingestehen zu können, dass mein Leben nicht perfekt ist. Erst wollte ich am liebsten bloß neue und geeignete Verhaltens- oder Denkmuster erlernen um die Situation gut, bzw. besser zu meistern, aber mir wurde nun klar, dass ich wohl etwas hergeben muss um etwas anderes dafür zu bekommen.
Es kristallisierte sich schnell in der Therapie heraus, dass in den letzten Jahren immer ich sämtliche „Investitionen“ in Beziehungen und Projekte gesteckt hatte. Sei es bei der Arbeit (allein der Standort: am anderen Ende der Welt), bei Projekten, für die im Team ausschließlich ich die entscheidenden Qualitäten besaß (deren Einsatz nur leider nicht zusätzlich vergütet werden konnte) und in der Beziehung zu meinem Freund. Ich dachte wohl, wenn ich nicht das entscheidende Engagement aufbrachte bricht alles zusammen, dann werden die Projekte Quatsch, die Präsentationen ungut, die Beziehung müde. Aber hätten nicht verbesserte Umstände einiges dazu beigetragen, dass es mir grundsätzlich besser ging und dass ich dann keine Essstörungen mehr brauchte? Denn ich spiele die Hauptrolle in meinem Leben, nicht der Job, ein Projekt oder meine Beziehung.
Die Frage kann ich mir heute stellen, nachdem ich den steinigeren Weg gegangen bin und ich glaube, dass viele Probleme gelöst worden wären, wenn ich sie nicht schon in der Wurzel verhindert hätte „aufzutreten“, sondern sie auch einfach mal akzeptiert hätte, wenn ich Schmerzen, vielleicht auch Wut und Uneinigkeiten ausgehalten hätte. Die Essstörungen haben in der Hinsicht vieles betäubt und mich in dem Glauben bestärkt, dass mit mir etwas nicht stimmt und ich das Problem bin, nach dem Motto „ich kann ja nicht mal richtig essen“. Tief in mir drin wusste ich eigentlich, dass es andere Wege geben muss – aber der Drang ein höchstbeschäftigtes, aufregendes und emanzipiertes Leben zu führen war zu dem Zeitpunkt einfach größer.
Ich wollte modern sein: Zeigen, dass Patchwork funktioniert, zeigen, dass ich auf allen Ebenen belastbar und finanziell unabhängig bin, dass Harmonie in meinem Leben selbst unter erschwerten Bedingungen mit den Kindern und der Exfrau meines Freundes machbar war. Es ist mir leider erst sehr spät aufgefallen, dass außer mir kaum jemand Interesse hatte, ein ehrliches, harmonisches Leben mitzugestalten. Das waren alles meine Wünsche gewesen, nicht die der anderen. Aber das hatte mir so explizit niemand gesagt, ich wollte es nicht wahrhaben und wurde im Gegenzug immer engagierter. Mein extremes Engagement resultierte vielleicht auch daraus, dass alle anderen gar nichts taten und ich diesen Stillstand bekämpfen wollte. Ich hatte einen enormen Tatendrang und wollte „nach außen“ etwas darstellen. Hätte ich die Therapie und den Workshop sofort durchgezogen, wäre mir mit Sicherheit aufgefallen, dass etwas nicht stimmt und in mir ganz andere Wünsche schlummerten, aber soweit habe ich es ja gar nicht erst kommen lassen. Dementsprechend entfernt war ich von mir selbst und dementsprechend stärker wurden die Essstörungen und mein Drang „nach außen“ zu leben: Ich wollte anderen gefallen, nicht mir selbst, bzw. habe ich mich darüber langsam aber stetig vergessen.
Ich verharrte längere Zeit in einer Situation, in der ich alle Verantwortung übernahm, ich dachte ernsthaft, wenn ich jetzt mal nichts oder weniger mache bricht alles um mich herum zusammen. Bei mir stimmte das von Psychologen beschriebene „Re-Inszenieren angelernter alter Rollen“. Viel früher in meinem Leben war ich sehr wohl gezwungen mich unterzuordnen, mich mit den ungelösten Problemen anderer auseinanderzusetzen und sie zu akzeptieren, weil keiner außer mir diese lösen wollte. Ich musste mich hintenanzustellen und meinem Umfeld Stabilität signalisieren, anstatt mich um mich selbst zu kümmern. Ich ahnte auch damals, dass das Kümmern um meine Essstörungen jetzt keinen Platz hat, sonst müsste ich etwas opfern und dazu hatte ich als Jugendliche keine Kraft.
Interessanter Weise habe ich mir genau dieses Szenario (mit anderen Personen und Relationen), das in der Grundsituation gleich gebliebene Schema erneut arrangiert. Zum Glück kann ich in der heutigen Situation als Erwachsene etwas ändern, denn heute kann ich entscheiden wie weit ich mich engagiere, unter welchen Umständen ich arbeiten möchte und wie ich mein Leben gestalte. Klar sind Leistung, Belastbarkeit, Flexibilität in unserer Gesellschaft hohe Güter, aber ich kann selbst bestimmen wieweit ich mich dem Druck anpasse und Grenzen ziehen, wenn es nötig ist. Und ich kann entscheiden auch mal keine Verantwortung für bestimmte Bereiche zu übernehmen. Das ist mein Recht und eigentlich auch eine Pflicht mir selbst gegenüber.
Erkenntnisse umgesetzt:
wenigstens neue Projekte gezielter aussuchen, Aufwand und Entlohnung abwägen und möglichst sämtliche Entscheidungen schriftlich ausmachen (am Telefon schwächelte ich häufig und ließ mich bequatschen, da ich den Aufwand kaum einschätzen konnte und am Ende mit riesigem Aufwand und lächerlichen Erträgen ausging)
Organisation (in jedem Bereich) zumindest erst einmal reduzieren und versuchen sich in der gewonnenen Zeit mir selbst zuwenden
Präsenzdruck minimieren, man muss nicht auf allen Bällen getanzt haben – was passieren soll, wird auch passieren. Dem entgeht man nicht und ganz bestimmt ändert man es nicht. Nur auf Veranstaltungen gehen, bei denen man auch wirklich einen Sinn sieht
Die scheinbare Kontrolle über das Essen für wenigstens einen abgesteckten Zeitraum aufgeben und sich selbst in eine Beobachterrolle begeben (wie im Online-Workshop bei einer Einheit). Wichtig war für mich: Wann fresse ich und was war vorher und nachher passiert? Ich komme nicht von den Essstörungen los, ohne meine Probleme und auslösenden Themen/Situationen zu kennen. Symptomschönung während einer Essstörung (Essen nach Plan) zögert eine Heilung meiner Erfahrung nach hinaus
grundsätzliche Entflechtungen schaffen: arbeiten am Arbeitsplatz, essen am Esstisch, fernsehen ohne Laptop auf dem Schoß, telefonieren auf dem Sofa ohne Ablenkungen, im Bett nicht arbeiten oder lesen. Das hilft mir mich besser zu konzentrieren, mich nicht zu verzetteln und den Tätigkeiten gerecht zu werden.