Kathrins Genesungsweg Teil 10: Buchempfehlung 2

Insgesamt gab es während der Zeit meiner Essstörungen (rund 11 Jahre) zwei Phasen, in denen ich mich von der Störung befreit fühlte. Die erste Phase war mit 20 Jahren, ich hatte mich verliebt und fühlte mich seit langer Zeit endlich einmal wieder mit der Welt im Einklang. Die Essstörung war nach einem quälenden, überwiegend magersüchtigen Jahr verschwunden, ich konnte essen wie ein Kind. Was ich nicht merkte, war meine Abhängigkeit in der neuen Beziehung und dass meine Sucht nach Nicht-Essen oder Über-Essen keineswegs verschwunden, sondern durch die Abhängigkeit zu meinem damaligen Freund ersetzt worden war. Eine klassische Suchtverlagerung – hat bei mir offenbar auch mit Menschen funktioniert – wird sie bei den meisten eher durch Ersatzhandlungen wie Rauchen oder Sport ausgelebt. Dieser Zustand hielt nicht lange an, nach der Trennung kam die Fresssucht. Die zweite Phase wurde durch mehrere sehr gute Bücher ausgelöst, begann und endete 2010. Ich kann das Buch Abnehmen und dabei genießen grundsätzlich empfehlen, möchte aber in diesem Artikel auf meine ganz persönliche Geschichte und „Nebenwirkungen“ damit aufmerksam machen.  Ich wurde mitten im Examensstress meiner Masterarbeit auf die Psychologin, ihren Verlag und ihre Bücher aufmerksam. Ich fand und finde sehr viele der Gedanken hilfreich. Man spürt die therapeutische Nähe und die Zuwendung zur eigenen Person, die durch viele Übungen angeregt werden soll. Der Verlag hat eine Menge guter und zutiefst kluger Ratgeber herausgegeben, die ich ebenfalls bei unterschiedlichsten Problemen empfehlen kann. Die Idee, das zu dem Zeitpunkt grauenvolle Dauer- Diäten aufzugeben, mich mir selbst, meinem Körper und den dahinter liegenden Problemen zuzuwenden war gewachsen und als ich die Arbeit eingereicht hatte, belohnte ich mich mit einem Heimaturlaub und einer Batterie von Büchern, die in diese Richtung gingen. Das Selbsthilfeprogramm LEICHTER (damals noch ohne Gruppen-Telefon-Mentorings), das schon seit 2009 in meiner Schublade schlummerte, wollte ich erst einmal nicht wieder aufgreifen, denn für die Auseinandersetzungen mit den Ursachen oder zu einem wirklichem Loslassen der Fresssucht war ich offenbar zu diesem Zeitpunkt noch nicht bereit. So wurde im Sommer vor meinem Arbeitsantritt dieses Buch meine „Bibel“. Die ersten Wirkungen waren enorm: Ich habe für eine kurze Zeit mit meinen Essstörungen lernen können, ausschließlich nach meinen Bedürfnissen zu leben, konnte Probleme aushalten, Gefühle ausdrücken und ganz nebenbei normal essen. Das war ungeheuer befreiend. Ich schreibe allerdings ganz bewusst mit den Essstörungen.

Zum Inhalt:

In ihrem Buch arbeitet die Autorin ganz gezielt dem krankmachenden Diätwahn, den gängigen Diätprogrammen und oberflächlichen und unmenschlichen Erwartungen an sich selbst entgegen und hält gesunde, körper- und seelennahe Maßnahmen und Gedanken bereit, mit denen man sich selbst finden und helfen kann. Der Schlüssel lautet auch bei ihr Selbstannahme, Liebe und Schutz der eigenen Person, Wiederentdeckung der eigentlichen Bedürfnisse (sowohl auf kulinarischer als auch jedweder anderen Ebene) und ein Leben im wahren Einklang mit sich selbst. Es sind sehr kluge und lebensnahe Tipps enthalten, wie man seinen wahren Hunger wiederentdecken und erkennen kann. Es ist kein dünnes Heftchen, sondern recht dick,  prall gefüllt mit Material ohne viele Bilder und damit ein sehr dichtes Buch.

Zur Wirkung bei mir:

Das Buch hat mir nach einer bereits längeren Odyssee geholfen ein erstes Licht am Ende des Tunnels wirksam zu spüren. Ich begann die aktuellen Probleme zu ahnen und teilweise ernst zu nehmen. Leider half es mir nicht dauerhaft auf diese Weise, also ausschließlich durch Achtsamkeit und genaues Erspüren der jeweiligen Bedürfnisse, meine Fresssucht loszuwerden. Vielmehr habe ich sie beim erneuten Ausbrechen zum Eintritt ins Arbeitsleben mithilfe der Methode versucht zu ignorieren, im Sinne von „Ach was Kathrin, du überisst dich nicht, du tust nur, was dein Körper gerade von dir will“ – und das war eine ganze Menge und nun war alles „erlaubt“. Es war mit Sicherheit keineswegs von der Autorin beabsichtigt, bei Ignoranz der eigentlichen Probleme (schwierige Familiensituation, krank machendes Arbeitsumfeld, massive Selbstüberforderung, mangelnd ausgeprägte Fähigkeit Grenzen zu ziehen), den Startpfiff zum Fressen zu geben, aber so habe ich – unter dem Deckmantel dieser Theorie – gelernt, meine Essstörung weiter vor mir zu leugnen. Und ich habe auch diese Methode missbraucht um meiner Fresssucht ein geschöntes Aussehen oder zumindest einen besseren Namen zu geben, denn jetzt stand „natürlich“ auf der Verpackung. Die Phase (einige Wochen Ferien) zwischen Studium und Berufseinstieg war nicht dehnbar, zumindest nicht für mich, die ich unter enormem, selbst produzierten Leistungsdruck stand und unbedingt Karriere abliefern wollte. Das Auslassen von Wiegegängen war durchaus befreiend, leugnete aber zum damaligen Zeitpunkt auch den extremen Gewichtsanstieg in sehr kurzer Zeit, der mir mein tatsächliches Problem (die Fresssucht) vielleicht deutlicher gemacht hätte, ein ausgeprägtes Körpergefühl schien ich ja noch nicht zu haben. Denn meine Essstörung war noch nicht weg, nur für eine kurze Zeit ist es mir gelungen  mich dem Druck mit dieser Methode entgegenzustellen und mich ernst zu nehmen. Kurzum: Ich konnte mit der Methode zunächst sehr frei und gesund leben, bei Überbelastungen allerdings auch schnell die Augen vor meiner Krankheit verschließen, weil ich sie endlich ignorieren „durfte“. Das war für mich zur damaligen Zeit sehr verwirrend und schwierig, weiß ich heute und bin der Meinung, dass eine handfeste Essstörung zusätzlich zu diesem Buch in die Hände eines Fachmanns, in therapeutische Hilfe gehört. Nur so hätte ich damals eine Chance gehabt, aber es mag anderen Menschen komplett anders ergangen sein. Zum Titel: Ihr Programm soll helfen auf natürliche Weise abzunehmen. Ein wenig  habe ich mich beim erneuten Lesen des Buches daran gestört und das aus zwei Gründen. Es mag natürlich einerseits daran liegen, dass der Titel gewählt wurde um einen Anreiz bei der Zielgruppe zu ermöglichen, die Verkaufszahlen steigen mit so einem Titel eher, als wenn das Buch „Finde den Weg zum natürlichen Essverhalten und zur Selbstakzeptanz“ hieße, denn es ist nach wie vor der Wunsch tausender Frauen abzunehmen, trotz Normalgewichts. Dennoch wird dadurch der Fokus auf Schlankheit gelegt, was ich nicht unbedingt mit dem wirklichen Inhalt des Buches vereinbaren kann, weil damit „Abnehmen“ erneut im Zentrum steht. Das ist aber nicht Kern und auch nicht Kompetenz des Buches, denn zum anderen stimmt es meiner Meinung nach nicht und kann nicht gelingen abzunehmen, sollte vielleicht auch bei diesem Thema nicht im Mittelpunkt stehen. Eine leicht oder mittelstark übergewichtige Person wird mit dieser Art und Weise vielleicht etwas an Gewicht verlieren, was wirklich Schwergewichte betrifft, halte ich diese Methode für sehr unwirksam, da der Körper auf jeder Gewichtsstufe meiner Erfahrung nach genau das verlangt, was er verbraucht und das ist je nach körperlicher Lage und Betätigung mehr oder weniger exakt zum Halten des Plateaus richtig. Mein Fazit: Es ist ein unterstützendes Buch, das hilft, sich und seine Essanfälle besser zu verstehen, wahre Themen zu berühren und runterzukommen vom Diätwahn und sich seinem Körper, dem echten und dem „anderen“ Hunger zuzuwenden. Manch einer schafft es vielleicht sogar ausschließlich mit diesem Buch, seiner Sucht ein Ende zu setzen, ich brauchte mehr.  Aus meiner Sicht heute: Im Zusammenhang mit therapeutischer Hilfe uneingeschränkt empfehlenswert.