Magersucht ist oft schlimmer als Übergewicht, Herr Lagerfeld

Ein offener Brief an Karl Lagerfeld bezüglich seiner Äußerungen über Magersucht und Übergewicht:

Sehr geehrter Herr Lagerfeld,

Sie haben mal wieder für fette Schlagzeilen gesorgt. Nur scheinen Sie leider nicht zu wissen, was Sie mit Ihren Äußerungen anrichten können:

Sie haben behauptet, dass Übergewicht schlimmer sei als Magersucht weil mehr Menschen an den Folgen von Übergewicht sterben.

In Deutschland sind laut Weltgesundheitsorganisation (WHO) 16 Millionen Menschen übergewichtig. Jährlich sterben nach Berechnungen des Hamburger Gesundheitsökonomen Alexander Konnopka 36 600 Menschen an den Folgen des Übergewichts. Das sind 0,2 Prozent jährlich.

Im Jahr 2010 wurden laut Statistischem Bundesamt in Deutschland 6300 Menschen in Kliniken als magersüchtig diagnostiziert. 82 Menschen starben infolge der Essstörung. Das sind 1,3 Prozent jährlich. Insgesamt sterben etwa 15 Prozent der Magersüchtigen letztendlich an den Folgen der Erkrankung, laut des Deutschen Instituts für Ernährungsmedizin und Diätetik (DIET).

Statistisch ist die Lagerfeld-These nicht zu erklären:

Von Übergewicht sind zwar durchaus mehr Menschen betroffen. Es ist aber nicht so tödlich wie Magersucht.

Mit einer Sterblichkeitsrate von insgesamt 15 bis 20 Prozent fordert Magersucht mehr Todesopfer als jede andere psychiatrische oder psychosomatische Störung.

So widerlegt die BILD Ihre Aussage in Zahlen.

Aber die Zahlen sind eine Seite, die Einzelschicksale von Millionen von Mädchen und Frauen – denen Sie als öffentliche Person eine klare Botschaft signalisieren – die andere.

Sie sind ein Mensch, für den Disziplin sehr wichtig scheint. „Ich hasse es, wenn man sich gehen lässt.“ werden Sie gern zitiert. Und weil Sie selbst ihr Gewicht innerhalb kürzester Zeit reduziert haben, scheinen sie zu glauben, dass es übergewichtigen Menschen „nur“ an Disziplin fehlt.

Und auch wenn das auf den ein oder anderen zutreffen mag, so ist das zumindest für den Teil der Übergewichtigen, die unter der Essstörung Binge Eating leiden, nicht der Fall. Auch Frauen mit Bulimie sind meist sehr diszipliniert und perfektionistisch und doch haben sie die Kontrolle verloren. Ebenso ist es bei Frauen mit Magersucht. Sie haben keine Kontrolle über ihr Leben und versuchen, wenigstens ihren Körper zu kontrollieren. Magersüchtige Mädchen und Frauen haben kein nachvollziehbares Problem mit ihrem Gewicht oder ihrem Körper. Ihr Körper ist „nur“ das Schlachtfeld, auf dem sie ihre inneren Kämpfe äußerlich ausführen.

Was das Behandeln der Magersucht so schwierig macht ist, dass diese Mädchen sich ähnlich verhalten wie Sie, Herr Lagerfeld: Sie schauen verächtlich auf andere herab, die scheinbar disziplinlos sind, die „essen müssen“. Dabei haben diese Mädchen den Blick auf die Realität verloren. Und wollen immer noch dünner, noch perfekter, noch kontrollierter sein. Es wird nie genug sein, denn ihr innerer Hunger ist nicht mit Hungern zu stillen.

Bis Anorexie bei einem Mädchen in einer Klinik diagnostiziert wird, hat sie einen langen Leidensweg hinter sich und wurde oft zwangseingewiesen, weil ihr Gewicht lebensbedrohlich ist.  Aber die Magersucht beginnt viel früher, sie beginnt im Kopf. Und die Magersucht beherrscht die Gedanken, die Gefühle, den Körper, das ganze Leben. Die Magersucht ist eine Krankheit und kein bewusst gewählter Lifestyle. Magersucht kostet Lebensqualität und manchmal auch das Leben.

Mittlerweile wird davon ausgegangen, dass jedes vierte Mädchen in Deutschland essgestört ist. Ein Großteil dieser Mädchen wird irgendwann einmal an Magersucht leiden.

25% aller Mädchen und Frauen werden in einem Teufelskreis aus Hungern, Kotzen, Fressen, Schuld, Scham, Isolation und Depression gefangen sein weil sie glauben, dass Dünnsein all ihre Probleme löst. Immense (Folge)Kosten kommen auf die Gesellschaft, auf die Krankenkassen, zu.

Und dann kommen Sie daher, Herr Lagerfeld, und sagen, das sei nicht schlimm?!?

Während die Süddeutsche Ihre Aussage lapidar als „Lästerei über übergewichtige Mädchen“ betitelt, bezeichne ich sie als grobe Fahrlässigkeit.

Fette Grüße

Simone Happel