Ein offener Brief:
Hallo, liebe Marie!

Vor einigen Tagen hat “Marie” den folgenden Beitrag als Kommentar zu einer meiner Artikel geschrieben. Da ich finde, dass er sehr bezeichnend für die Situation unzähliger Frauen mit Essstörung ist, widme ich ihm einen eigenen Blogbeitrag:

Ich heiße Marie. Naja, jedenfalls wollte ich früher immer Marie heißen. Heute nenne ich mich so, um eine Netzidentität zu schaffen, die keine Rückschlüsse auf meinen Klarnamen zuläßt. Alle anderen Inhalte bemühe ich mich, möglichst schonungslos ehrlich darzustellen. 
Ich bin 35 Jahre alt. Ich habe ein fast pubertierendes Kind, eine leider nicht mehr gut funktionierende Partnerschaft, einen wundervollen Beruf, ja einen Beruf, den man Berufung nennen kann und sogar hinreichend Arbeit, um davon zu leben. Ich bin körperlich gesund, eher sportich, “normalgewichtig”. Im Rahmen des sogenannten BMIs schwankt mein Gewicht allerdings, je nachdem ob ich gerade auf Diät bin oder in einer bulimischen Phase mit Fressattacken. Ich bin nicht der Typ, der sich ausserordentlich oft wiegt. Die Zahl auf der Waage betrachte ich nicht fanatisch. Es ist mehr der Eindruck meines Spiegelbildes, von dem die jeweilige Tagesform abhängt.

Meine erste Diät habe ich im Teenageralter gemacht, wobei ich, seit ich denken kann, dem Eindruck unterlag, zu dick zu sein. Warum das so ist, weiß ich nicht. Ich war immer normalgewichtig. Meine Eltern gehören zu der Sorte von Menschen, die unabhängig von Ess- und Bewegungsverhalten sehr schlank sind. Hätte ich mir ein Erbe aussuchen können, so wäre es diese genetische Glückskombi gewesen. Hat leider nicht geklappt. Ich muß jedoch betonen, dass meine Eltern mir nie das Gefühl gaben, abnehmen zu müssen oder zu dick zu sein. Im Gegenteil, das Thema Gewicht ist ihnen stets so wesensfremd gewesen, dass ihnen nicht einmal auffiel, wenn ich bis zu 15 Kilo ab- oder zunahm. (Zumindest kommentierten sie das nie). Meine Beschäftigung mit Gewicht und äusserem Erscheinungsbild muß also aus einer anderen Ecke kommen. Soweit ich mich erinnern kann, habe ich als Teenager mehr unter meinem Gewicht gelitten als es objektiv verhältnismäßig gewesen wäre. Ich fühlte mich anderen, schlankeren Menschen stets unterlegen, und bis heute ist Attraktivität sehr wichtig für mein Gefühl von Selbstwert. Das habe ich allerdings nie beschlossen. Es folgt mehr einer sehr tief sitzenden Prägung, die ich zum jetzigen Zeitpunkt nicht zu beeinflussen vermag.

Als ich mit 20 das Rauchen für mich entdeckte, war meine vermutlich schon damals patholoische Essstörung zwar nicht geheilt, aber es trat eine deutliche Besserung ein. Ich habe die Zigarette nicht gezielt dafür eingesetzt, aber es war ein angenehmer Nebeneffekt. So kommt es, dass ich zwischen meinem 20. und 34. Lebensjahr zwar auch immer mal wieder eine Diät machte und gewissen Schwankungen im Gewicht unterlag, aber insgesamt ein einigermaßen krisenfreies Dasein geniessen konnte. Überwiegend fühlte ich mich in dieser Lebensphase attraktiv. Ich aß “normal”, was hier meint, dass ich auch jenseits von diätischen Phasen meine Mahlzeiten mit Hilfe der Zigaretten gut beenden konnte, keine Fressanfälle hatte und für meine Verhältnisse entspannt mit essen umgehen konnte. Gewicht war auch da ein Thema, beschäftigte mich aber nicht rund um die Uhr. Die Diskrepanz zwischen guten und schlechten Tagen war auch weit weniger extrem als heute.

Heute, zwei Jahre nachdem ich das Rauchen aus gesundheitlichen Bedenken heraus eingestellt habe (und wahrscheinlich auch aufgrund des Imageverlustes, den der Raucher zu erleiden hat), steht meine Essstörung in voller Blüte. Ich bin nicht mehr in der Lage, meine Eßgewohnheiten intuitiv zu gestalten. Ganz ungeachtet des Gewichtes ist es so, dass ich im Grunde immer und immer essen könnte. Auch mit einem fast unerträglichen Völlegefühl im Magen gibt es einen Teil von mir, der immerzu Nahrung aufnehmen möchte. Das Beenden von Mahlzeiten wird auf diese Weise jedes Mal zu einem Kampf, der mit vielen Ängsten und Versagensgefühlen verbunden ist. Jenachdem, ob ich diesen gerade gewinne oder verliere, sorge ich zum Teil durch Erbrechen dafür, zum einen einer Gewichtszunahme möglichst entgegenzuwirren und zum anderen, meinen kaum erträglichen Druck im vollgestopften Magen los zu werden. Dazwischen gibt es Phasen, wo es mir gelingt, mich an Diäten zu halten (von Weight Watchers bis zu Eiweißshakes habe ich fast alles durch). In dieser Zeit nehme ich dann ab und es geht mir subjektiv besser als in den anderen Phasen, weil ich mich attraktiver fühle, mein Selbstwertgefühl ansteigt, gleichzeitig die Versagensgefühle wegfallen, die durch das zu viel essen entstehen und ich in der Folge mehr Spaß an mir und der Welt entwickle. Das Problem ist, dass ich in den Diätphasen immer Sehnsucht nach (mehr) essen habe … oder nach der Aufgabe dieser totalen Kontrolle. Auch wenn es keine Nulldiät, sondern vergleichsweise gesunde Diätkonzepte sind, kann ich sie immer nur für begrenzte Zeit durchhalten, und es fällt mir schwer, nach einer oder mehreren Fressattacken in die gesunde Ernährung zurückzukehren. Das widerum führt dazu, dass nach erfolgreichem Gewichtsverlust durch was auch immer stets eine Phase folgt, wo ich einen Fressanfall nach dem anderen habe, die Kontrolle ganz verliere und trotz Erbrechen in kurzer Zeit wieder genauso dick bin wie vorher. Diese Erfahrung ist eigentlich das Schlimmste. Dieses Gefühl, sich Monate lang für ein bestimmtes Ergebnis gegeißelt zu haben, das dann innerhalb weniger Tage oder Wochen verpufft. Dieses Zurück-auf-Los. Die Demoralisierung. Das Gefühl, sich den Menschen nicht mehr zeigen zu wollen, weil man doch eben noch viel hübscher aussah und sich schämt …

Jetzt bin ich in der Phase nach der Diät. Zwei Monate lang habe ich durch eiserne Disziplin ein Erscheinungsbild erreicht, welches mir ein gutes Lebensgefühl ermöglicht hat. Ich war aktiv, ich ging aus, ich zeigte mich … gerne, stolz, froh. Die Schattenseite waren Hunger, Mangelernährungserscheinungen und omnipräsente Essensgelüste. Keine 14 Tage nach “Abbruch” der Diät bin ich genauso dick wie vorher. Ich mag mich nicht zeigen, verkrieche mich, esse, weine, kotze. Jeden Tag nehme ich mir vor, wieder eine Diät einzuhalten. Aktuell klappt es leider nie. Ich sehne mich nach Selbstverständlichkeit. Von Eßverhalten Aber auch von Attraktivität.

Ich hoffe, eines Tages wieder normal leben zu können.

Hier mein offener Brief als Antwort

Hallo, liebe Marie!

Zunächst möchte ich mich ganz herzlich für Deinen  Brief bedanken. Dein Beitrag macht mich betroffen, denn auch nach über 13 Jahren erinnere ich mich daran, dass es mir ähnlich erging wie Dir.

Der Gipfel des Wahnsinns ist es, auf Veränderungen zu hoffen, ohne etwas zu verändern.

oder:

Wenn Sie so denken, wie Sie immer gedacht haben,
werden Sie so handeln, wie Sie immer gehandelt haben.
Wenn Sie so handeln wie Sie immer gehandelt haben,
werden Sie das bewirken, was Sie immer bewirkt haben.

Diese beiden Zitate von Albert Einstein landeten nach der Gedanken der Betroffenheit und des Mitgefühls in meinem Kopf. Denn nachdem Du Deine “Lebensodyssee” beschrieben hast, endest Du mit: “Jeden Tag nehme ich mir wieder vor, eine Diät einzuhalten”. Und wenn Du ganz ehrlich bist, weißt Du schon jetzt, dass auch die nächste Diät scheitern wird. Denn könnten Frauen mit einer Essstörung eine Diät einhalten, wären sie nicht essgestört.

“Ich hoffe, eines Tages wieder normal leben zu können.” schreibst Du ganz am Ende. Und ja, das kannst Du, wenn Du Dein Denken änderst, andere Prioritäten setzt, andere Fragen stellst. Du schreibst, dass Dein Beruf Deine Berufung ist. Das ist ein toller Ansatz. Du kannst es also. Auf einer gewissen Ebene kannst Du für Dich und die Erfüllung Deiner Bedürfnisse sorgen. Liebe Marie, ich glaube, dass keine Diät dieser Welt Dir geben kann, was Du wirklich willst und brauchst, das kannst Du nur selbst. Bleib stehen und finde heraus, was diese Essstörung Dir mitteilen will. Wenn Du verstehst, warum sie da ist, wirst Du anders mit ihr umgehen können. Ich wünsche Dir von ganzem Herzen den Mut und das Durchhaltevermögen dazu. Es lohnt sich!

Hier einige “Frageanregungen” für Dich:

  • Warum sind Deinen Eltern diese Gewichtsschwankungen nicht aufgefallen?
  • Oder sind sie ihnen aufgefallen und sie wurden – weil unangenehm – einfach ignoriert?
  • Woher kommt diese “tief sitzende Prägung”?
  • Wie war generell die Beziehung zu Deiner Mutter, zu Deinem Vater?
  • Welche Parallelen gibt es zu Deiner jetzigen Beziehung zu Deinem Partner?
  • Warum funktioniert die Beziehung momentan nicht gut?
  • Wonach hungerst Du so sehr, dass alles Essen dieser Welt Dich nicht satt bekommen kann?
  • Wo und wie kannst Du Dir Hilfe holen und welche Hilfe kann das sein?

lebenshungrige Grüße

Simone