schuldlos schuldig
“Schuldlos schuldig” lautet der Titel eines Buchs von Susan Sloan, das ich vor vielen Jahren zum ersten Mal gelesen habe. Es gehört zu den wenigen Büchern, die mir in besonderer Erinnerung geblieben sind. Und das liegt einerseits daran, dass es in dieser fiktiven Geschichte um eine Frau geht, die zunächst zum Opfer wurde und der daraufhin weiteres Unrecht geschah.
Doch irgendwann hat diese Protagonistin die Opferrolle verlassen und den Täter auf durchaus unkonventionelle Weise zur Verantwortung gezogen. Und daraus ergibt sich andererseits, dass der Titel “schuldlos schuldig” am Ende sowohl auf den Täter als auch auf das Opfer zutrifft… .
Wie sagte schon Vera F. Birkenbihl so passend: “Geschichten sind fast so gut wie Erlebnisse.” Das kann ich nur bestätigen. Denn viele Romane oder Geschichten haben mich auf meinem Weg deutlich nachhaltiger begleiten können als beispielsweise “Fachbücher.”
Wenn wir uns in eine fiktive Figur hineinversetzen können, dann sind wir emotional involviert. Wir fiebern mit, stellen uns vor, wie es weiter gehen könnte, gehen vielleicht sogar in innere Dialoge mit den Protagonisten. Das Lesen eines “Fachbuchs” ist hingegen meist ein rationaler Akt.
Falls du jetzt neugierig auf das Buch geworden bist, findest du es hier bei Amazon (Werbung). Doch um Bücher soll es heute gar nicht gehen. Sondern ich möchte euch die Geschichte von Sabine erzählen. Denn auch der Titel ihrer Geschichte könnte “schuldlos schuldig” lauten:
Sabine hat in ihrer Kindheit etwas erlebt, weswegen sie sich extrem schuldig fühlt. Das Tragische an der Sache ist einerseits, dass sie damals gar nicht schuld gewesen sein kann und dass sie andererseits ihre Schuldgefühle bis heute nährt.
Mittlerweile ist Sabine verheiratet, berufstätig und Mutter von zwei Teenager-Töchtern. Und mit diesen Töchtern durchlebt Sabine seit Jahren diverse Dramen. Beide Mädchen haben bereits mehrere Schulwechsel hinter sich. Außerdem sind ihre Leistungen unterirdisch und die Fehlzeiten überdurchschnittlich. Doch das hat weder etwas mit dem Intellekt der jungen Damen noch mit irgendwelchen ernsthaften Erkrankungen zu tun.
Sabines Mantra, ihr Glaubenssatz, lautet: “Ich bin ihre Mutter und ich muss dafür sorgen, dass sie morgens aufstehen, in die Schule gehen und Leistung erbringen. Funktioniert das nicht, ist es meine Schuld.” Jeden Morgen dauert es Ewigkeiten, bis die Mädchen aus dem Bett kommen. Selbstverständlich ist es Sabines Aufgabe, sie zu wecken. Mehrfach. Und fast jeden Morgen versucht wenigstens eine der beiden jungen Damen mit dem Satz: “Es geht mir nicht gut, ich muss zu Hause bleiben.”
Beide haben schon zigmal die Erfahrung gemacht, dass dieser Satz bei Sabine zieht. Und Sabine hat schon genauso häufig erlebt, dass die “arme Kranke” plötzlich eine Wunderheilung durchlebte und nachmittags zu Freunden wollte. Und was hat die gute Sabine dann gemacht? Na logisch, sie hat die Wunder-Geheilte nachmittags zu den Freunden chauffiert.
Apropos Fahrdienst. Sabine ist generell eine Art private Chauffeuse der beiden Diven. Denn selbst wenn sich die Schulpflichtigen auf den Weg zur Schule machen, heißt das noch lange nicht, dass sie die Schule dann auch betreten und am Unterricht teilnehmen. Deshalb hat es sich Sabine zur Aufgabe gemacht, ihre Töchter selbst zur Schule zu fahren und zu warten, bis sie das Gebäude betreten. Doch das bedeutet nicht, dass die Kids auch in der Schule bleiben. Sabine wird permanent von ihren Töchtern belogen und betrogen.
Und dann kommt am Wochenende Sabines Mann nach Hause und überschüttet die Mädchen mit Geld und Geschenken, um sein schlechtes Gewissen zu beruhigen. Denn wegen seines Jobs ist er meistens die ganze Woche unterwegs. Auch der Gatte schiebt die Schuld für all die “Probleme” gerne Sabine zu.
Jeder Tag ist für Sabine ein – oftmals lebensgefährlicher – Kampf. Denn wenn sie es endlich geschafft hat, die Mädchen abzuliefern, ist sie häufig so spät, dass sie mit dem Auto zur Arbeit rast. “Irgendwann wickele ich mich noch um einen Baum”, sagt sie häufig schuldbewusst.
Viele Monate später:
Die älteste Tochter ist mittlerweile 18 Jahre alt. Sie hat im zweiten Anlauf gerade so einen qualifizierten Hauptschuldabschluss geschafft und sitzt bereits seit über einem Jahr zu Hause herum. Natürlich gab es zur Volljährigkeit ein neues Auto von Papi. Und Sabine hofft jetzt: “Wenn sie eine Ausbildung macht, dann ist alles gut.” Und ratet, wer meint, einen Ausbildungsplatz für die Tochter finden zu müssen?
Sabine hat schon unzählige Bewerbungen geschrieben. Und als es einmal sogar zu einem Termin für ein Vorstellungsgespräch kam, ist die Tochter – oh Wunder – einfach nicht hingegangen.
Sabine befindet sich in dem typischen Teufelskreis von “Ich muss mich nur noch mehr anstrengen, dann …”. Doch durch die Ergebnisse, die sie durch all ihre Anstrengungen erzielt, fühlt sie sich noch schuldiger. Während sie auf eine ganz andere Weise – neben ihrem Mann – tatsächlich Schuld daran ist: Das Verhalten der Kinder hat keinerlei Konsequenzen für die Kinder.
Warum sollte ein verwöhntes Mädchen sein Verhalten ändern, wenn es für das bisherige Verhalten belohnt wird? Warum?
Was würde wohl passieren, wenn Sabine und ihr Mann zur Ältesten sagen würden:
“Okay, wenn du keine Ausbildung machen willst, dann brauchst du auch kein Auto. Du kannst gerne hier wohnen bleiben, musst dann aber deutlich mehr im Haushalt helfen. Denn im Gegensatz zu uns bist du ja zu Hause und hast Zeit.”
Würde diese Ansage und die entsprechende Umsetzung nicht die Wahrscheinlichkeit erhöhen, dass die junge Dame sich selbst um einen Ausbildungsplatz kümmert? Und würde sich Sabine dann nicht weniger schuldig fühlen können?
Die Moral von der Geschichte ist, dass es enorm wichtig ist, wirklich zu verstehen, warum wir tun, was wir tun und welche Konsequenzen unser Verhalten hat. Ansonsten ist die Gefahr groß, dass wir mit Vollgas bei angezogener Handbremse in die falsche Richtung unterwegs sind.
MindMuse Simone